Wien – Man sollte glauben, dass Ratten zu den am besten erforschten Organismen der Welt gehören: Nicht nur sind sie ziemlich groß und kommen mittlerweile so gut wie überall vor, sie leben in den meisten Fällen auch in unmittelbarer Nähe des Menschen – der sie erbittert verfolgt und allein aus diesem Grund alles über sie wissen sollte, was es zu wissen gibt. Dem ist aber nicht so: "Wir haben sehr wenig Daten zu Ratten in der Stadt", sagt Amélie Desvars-Larrive. Die französische Tierärztin befasst sich seit zehn Jahren auf der ganzen Welt mit Ratten. Derzeit widmet sie sich in einem Projekt am Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie der Veterinärmedizinischen Universität der Wanderratte in Wien.

Dabei geht es in erster Linie darum, herauszufinden, inwieweit Ratten ein Gesundheitsrisiko für die Stadtbevölkerung darstellen. Bekanntlich beherbergen die Tiere mitunter Viren, Bakterien und Parasiten, die auch den Menschen befallen können. Wer dabei an die Pest denkt, hat nur teilweise recht: Die großen Pestepidemien des Mittelalters wurden nämlich von Hausratten (Rattus rattus) übertragen – die Wanderratte (Rattus norvegicus) gab es zu diesem Zeitpunkt in Europa noch nicht.

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Wanderratten sind extrem anpassungsfähig – auch in menschlicher Gesellschaft (hier auf einem Vogelfutterplatz). Forscher wollen herausfinden, inwieweit sie ein Gesundheitsrisiko für die Stadtbevölkerung darstellen und wie sie bekämpft werden können.
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Ursprünglich aus Nordostasien stammend, kam sie erst im 18. Jahrhundert bei uns an. Auch die Hausratte stammt aus Asien, verbreitete sich aber an Bord von Schiffen schon viel früher: Der älteste Nachweis in Deutschland stammt aus dem 2. nachchristlichen Jahrhundert. Heute gilt die Hausratte übrigens als gefährdet: Die etwas größere und deutlich konkurrenzstärkere Wanderratte hat sie weitgehend verdrängt.

Wie viele davon in Wien leben, kann niemand seriös sagen – nur dass es deutlich weniger sind als auf der tropischen Insel Réunion, wo Desvars-Larrive die Nager viele Jahre lang erforscht hat: Dort fing sie in nur einem Jahr problemlos mehrere hundert Tiere – in Wien sind es jetzt nach einem Jahr gerade einmal 84 Exemplare.

Zum Einsatz kommen dabei Lebendfallen aus Draht, die am hinteren Ende mit einem Köder aus Haferflocken, Erdnussbutter und Sardinenöl bestückt werden, der für die Ratten sehr attraktiv ist. Kriecht ein Tier hinein, löst sein Gewicht das Zufallen der Tür am anderen Ende aus. Dass in Wien bis jetzt so wenige Ratten in die Falle gingen, liegt unter anderem an der menschlichen Stadtbevölkerung: Obwohl die Fallen eine deutlich sichtbare Aufschrift mit ihrem Zweck und der Bitte, sie nicht zu manipulieren, tragen, werden immer wieder welche beschädigt, gestohlen oder zumindest von Hand geschlossen, bevor sich eine Ratte hineinwagen kann.

Ein anderer Grund ist die hohe Intelligenz der Tiere: "Ab der dritten Nacht an derselben Stelle fängt man nur noch unerfahrene Jungtiere oder erwachsene Ratten, die beim Eintritt in die Falle schon vergiftet waren" , weiß Desvars-Larrive. Letztere liegen bei der Kontrolle am nächsten Morgen – im Unterschied zu gesunden Tieren – schon tot in der Falle, und die Obduktion zeigt dann die typischen inneren Blutungen, die heutige Rattenbekämpfungsmittel hervorrufen. Ab und zu findet Desvars-Larrive auch Tiere in den Fallen, die nicht Ziel ihrer Untersuchung sind, wie Wühlmäuse oder auch einmal einen Igel. Diese werden wieder freigelassen.

Parasiten und Bakterien

Von den Ratten hingegen werden im Labor Blutproben genommen und ein Rachenabstrich gemacht. Außerdem wird ihr Fell gekämmt, um Ektoparasiten wie Flöhe festzustellen. Die Gewebeproben sind vorläufig tiefgekühlt und werden erst später ausgewertet, aber was die Ektoparasiten betrifft, zeichnet sich ein Bild ab, das nicht so recht zum Bild der schmutzigen Kanalratte passen will: "Es ist sehr selten, dass wir einen Floh auf den Tieren finden", erzählt Desvars-Larrive, "sie sind nicht nur unglaublich interessant, sondern auch sehr sauber."

Ob das Innere der Wiener Ratten genauso unbedenklich ist, muss erst geklärt werden: So sind Wanderratten unter anderem Verbreiter von Leptospira-Bakterien, die beim Menschen die sogenannte Weil-Krankheit auslösen. Diese kann bei schwerem Verlauf zu Lungenproblemen, Gelbsucht, Nierenversagen und schlimmstenfalls zum Tod führen.

Die Ratten erkranken selbst nicht, verbreiten die Bakterien aber. Die Ansteckung erfolgt entweder durch den Kontakt von Schleimhäuten oder offenen Hautstellen mit dem Harn infizierter Tiere oder über verunreinigtes Wasser und Erdreich. Die Krankheit ist sehr selten; gefährdet sind vor allem Kanalarbeiter oder Rattenbekämpfer.

Auch Hantaviren, die hämorrhagisches Fieber auslösen können, werden von Ratten verbreitet. Ebenso könnten die Nager ein Reservoir für Salmonellen sein. Welche Krankheitserreger die Wiener Ratten tatsächlich beherbergen, wird Desvars-Larrive feststellen, wenn sie eine Datengrundlage von mindestens 200 Exemplaren hat.

Rattengift und Resistenzen

Daneben sollen aber auch wichtige Daten für die Rattenbekämpfung erhoben werden. Nach den Weltkriegen erlebte Westeuropa eine massive Zunahme der Rattenpopulation, sodass bald Gegenmaßnahmen ergriffen wurden: In Österreich schreibt die "Ratten-Verordnung" seit 1925 eine regelmäßige Bekämpfung der Nager vor. Anfangs erfolgte das durch das Ausbringen von Strychnin, doch die Ratten lernten bald, Nahrung zu vermeiden, die bei einem Artgenossen so sichtlich zum Tod führte.

In der Folge kamen und kommen sogenannte Antikoagulantien zum Einsatz: Diese simulieren einen natürlichen Tod, wodurch die Tiere keine Gegenstrategien lernen. Allerdings entwickelten die Ratten im Lauf der Zeit Resistenzen gegen die erste Generation dieser Mittel, sodass ab den 1970er-Jahren Antikoagulantien der zweiten Generation entwickelt wurden. Diese sind wirksamer, aber auch gefährlicher für andere Tiere. Davon abgesehen, gibt es in manchen Rattenpopulationen auch gegen diese bereits Resistenzen. Ob das auch in Wien der Fall ist, wird Desvars-Larrive ebenfalls untersuchen.

Eines kann die französische Tierärztin jetzt schon sagen: "Ratten sind extrem anpassungsfähig, und sie sind nicht überall gleich. Deshalb braucht es auch eine Anpassung an die lokalen Verhältnisse, wenn man sie erfolgreich bekämpfen will." (Susanne Strnadl, 8.10.2017)