Sebastian Kurz mit der Tiroler Spitzenkandidatin und neuen Behindertensprecherin der ÖVP, Kira Grünberg.

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Innsbruck – Der mediale Coup ist geglückt. Als die ÖVP im Juli Kira Grünberg als Tiroler Spitzenkandidatin für die Nationalratswahl präsentierte, sorgte sie damit für Schlagzeilen. Die junge ehemalige Stabhochspringerin war zwei Jahre zuvor im Training verunglückt. Nach dem Bruch des fünften Halswirbels blieb sie querschnittgelähmt. Als Sportlerin hielt sie zwar den österreichischen Rekord im Stabhochsprung, wirkliche Bekanntheit erlangte sie aber erst durch den tragischen Unfall.

Dass Sebastian Kurz die junge Tirolerin zur Spitzenkandidatin im seit 1945 ÖVP-regierten Tirol machte, sorgte auch parteiintern für Aufregung. Rudolf Häusler, VP-Bürgermeister ihres Heimatortes Kematen, wagte es im Juli öffentlich zu hinterfragen, "wen eine 23-Jährige ohne jegliche politische Erfahrung im Nationalrat vertritt". Er sprach gar von einer politischen Entwertung des Mandates. Drei ÖAAB-Kandidatinnen zogen nach Grünbergs Ernennung sogar ihre Kandidatur zurück.

Kritisches Nachfragen ist unerwünscht

Doch die parteiinterne Kritik wurde schnell erstickt. Externe wurde wiederum gar nicht erst zugelassen. Denn welche Medien mit Grünberg sprechen dürfen, wird vom Team Türkis sehr streng reglementiert. Wohlfühlinterviews, in denen die angehende Nationalrätin und Behindertensprecherin der ÖVP nach ihrem Befinden befragt wird, sind gern gesehen. Echte Inhalte, wie etwa die Behindertenpolitik, sind hingegen unerwünscht.

Seit Grünbergs Ernennung bittet DER STANDARD um ein Interview. Das wurde von der ÖVP anfangs mit der Begründung abgelehnt, dass sie sich noch einarbeiten müsse und noch geschult werde. Immerhin ist Grünberg Quereinsteigerin, die von sich selbst behauptet, sie habe bisher nichts mit Politik am Hut gehabt.

Behindertenpolitik ist kein Thema

Die Wochen zogen ins Land, doch eine Interviewzusage ließ weiter auf sich warten. Mittlerweile lachte Frau Grünbergs Konterfei bereits aus allerlei Gazetten, wo man sie über ihr schweres Schicksal, ihre Bewunderung für Sebastian Kurz, aber niemals wirklich inhaltlich zu ihren politischen Positionen befragt hat. Vor allem das Thema Behindertenpolitik, für das sie künftig zuständig sein soll, wurde – wenn überhaupt – stets nur oberflächlich gestreift.

Dann kam der 11. September. Die Tiroler ÖVP lud zur Präsentation der Spitzenkandidaten nach Seefeld. Flankiert von Landeshauptmann Günther Platter und Landwirtschaftsminister Andrä Rupprechter war auch Grünberg in der ersten Reihe. Die perfekte Gelegenheit, um endlich Fragen an die designierte Behindertensprecherin zu richten. Und tatsächlich gelang es, sie um ihre Haltung bezüglich Schulinklusion zu bitten. Grünberg wirkte unsicher und ließ sich auf Nachfrage, ob sie denn nun für oder gegen Sonderschulen sei, zur Aussage hinreißen, man solle Sonderschulen abschaffen.

Selektiver Zugang für Medien

Umgehend beendete das ÖVP-Presseteam die allgemeine Fragerunde. Für weiterführende Fragen stünden die Kandidatinnen und Kandidaten nun aber gerne im persönlichen Gespräch zur Verfügung. Wird Grünberg endlich erklären, wie sie die bisherige Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention beurteilt, wie sie zur Ausweitung der persönlichen Assistenz steht und was sie eben zum seit 1993 zwar rechtlich verbrieften, aber bis heute nicht umgesetzten Recht auf inklusive Bildung aller Kinder sagt?

Diese Hoffnung endete jäh. DER STANDARD darf nicht mit ihr sprechen. Der Pressesprecher stellte sich demonstrativ in den Weg. Wir hätten die gewünschte Aussage bereits, hieß es. Er spielte auf Grünbergs eben geäußertes Nein zu Sonderschulen an. Weitere Fragen zum Thema Behindertenpolitik würden nicht zugelassen. Die Pressekonferenz endete gegen 12 Uhr Mittag. Zwanzig Minuten später kam eine E-Mail der ÖVP-Pressestelle. In der Betreffzeile hieß es: "Statement Kira Grünberg zu Sonderschulen". Hier die Mail im Wortlaut:

"Ich glaube, dass man an dieses Thema nicht ideologisch herangehen darf. Die zentrale Frage lautet für mich vielmehr: Wie kann man jeden einzelnen Menschen am besten unterstützen und ihn auf ein möglichst selbstbestimmtes Leben vorbereiten. Eine gänzliche Separierung in eigenen Schulen halte ich für problematisch. Vielmehr glaube ich, dass Modelle wie in Kärnten, in denen an Regelschulen eigene Klassen für Kinder mit erhöhtem Förderbedarf eingerichtet werden, die Kinder die Pausen aber alle gemeinsam verbringen, forciert werden sollten. Zur Diskussion stellen möchte ich aber auf alle Fälle den Namen Sonderschule, weil er die Menschen abstempelt und schon der Ausdruck den Eindruck erweckt, dass es sich um eine Schule für Sonderlinge handelt. Darüber sollten wir uns Gedanken machen!"

Die ÖVP traut Grünberg das Thema nicht zu

Grünberg will also nur den Namen Sonderschule abschaffen, nicht aber die Sonderschule an sich. Man gewinnt den Eindruck, Kira Grünberg weiß vielleicht gar nicht wirklich, worum es bei diesem für Kinder mit Behinderung so wichtigen Thema eigentlich geht. Und ihre Partei scheint ihr das Thema auch nicht zuzutrauen. Weiß die Tiroler Spitzenkandidatin der ÖVP vielleicht gar nicht, dass in ihrem Bundesland der Bezirk Reutte existiert, der seit 1996 keine Sonderschulen mehr hat? In dem alle Kinder inklusiv unterrichtet werden und der in dieser Hinsicht als vielbeachtetes Vorbild gilt?

Dabei wurde ihr Hilfe angeboten, sich dieses Wissen anzueignen, das für ihre neue Funktion so wichtig wäre. Heinz Forcher, der Vorsitzende von Integration Österreich, Vater eines behinderten Sohnes und zusammen mit dem Lehrer Norbert Syrow seit drei Jahrzehnten treibende Kraft hinter dem Modell Reutte und unermüdlicher Kämpfer für die Rechte von Kindern mit Behinderung, hat Grünberg wiederholt angeboten, sich mit ihr zu treffen und über diese Themen zu sprechen. Die ÖVP hat dies abgelehnt. Vielleicht nach der Wahl.

Am Zeitmangel Frau Grünbergs liegt es wohl nicht. Sie wird derzeit munter durch sämtliche medialen Formate gereicht – vom Lokalfernsehen bis hin zur Runde der Tiroler Spitzenkandidaten in der Regionalpresse. Nur für den STANDARD gibt es weiterhin kein Interview. Mehr noch, Nachfragen – sei es per Telefon, SMS oder E-Mail – werden mittlerweile gar nicht mehr beantwortet.

Das neue türkise Verständnis von Pressefreiheit

Dann vor zwei Wochen ein letzter direkter telefonischer Kontakt mit der ÖVP-Pressestelle. Man sei bereit, über ein Interview zu reden, sofern man es vorab zum Gegenlesen erhalte und die ÖVP letztinstanzlich entscheiden dürfe, ob es abgedruckt wird oder nicht. Das neue türkise Verständnis von Pressefreiheit. Das Gegenangebot des STANDARD: Die Entscheidung über eine Veröffentlichung trifft die Redaktion, eine Autorisierung, die ohnehin üblich ist, sei aber kein Problem. Doch das genügt der ÖVP nicht. Seitdem herrscht Funkstille.

Und so bleibt es offen, was von der neuen ÖVP-Behindertensprecherin inhaltlich zu erwarten ist. Im Parteiprogramm hat das Team Kurz das Thema mit inhaltsleeren Floskeln abgetan. Grünberg gebart sich in Interviews mit anderen Medien indes als sozialpolitische Hardlinerin. So lieferte sie zuletzt Aussagen wie: "Nicht die Ärmsten der Armen kommen nach Europa, sondern diejenigen, die es sich leisten können. Sie suchen sich dann das Land aus, wo ihnen der Sozialstaat am meisten bietet. Wir müssen die Sozialleistungen weniger attraktiv gestalten." Oder: "Wir Österreicher zahlen ein Leben lang in das Sozialsystem ein. Andere, die noch nie etwas beigetragen haben oder es vielleicht gar nicht wollen, erhalten jedoch dieselben Leistungen. Das ist nicht in Ordnung."

Wenn eine Behindertensprecherin die Leistung von Menschen ins Treffen führt, damit diese Anspruch auf Sozialleistungen haben, dann wird wohl bald ein eisiger Wind in diesem Land wehen. (Steffen Arora, 5.10.2017)