Im abgelaufenen Jahrzehnt – politisch gesprochen: der deprimierenden Sarkozy-Hollande-Ära – versanken die Schriftsteller von Saint-Germain-des-Prés in Selbstbespiegelung, von Christine Angot "autofiction" genannt. Die "nouveaux philosophes" verloren ihren politischen Glaubwürdigkeitsanspruch, seit Bernard-Henri Lévy zum desaströsen Libyen-Krieg aufrief. Heute bringen sie auch inhaltlich "nichts Umwerfendes mehr" zustande, klagte Macron selbst.

Das übrige Frankreich hat sich verändert. Die Lebensbedingungen sind härter geworden – Massenarbeitslosigkeit, Terroranschläge, Lepenismus, globale Bedrohungen. Diese Vorgänge hinterlassen in der Literatur ihre Spuren. Ein Beispiel ist Leïla Slimani, Goncourt-Preisträgerin 2016, mit ihrem soeben auf Deutsch übersetzten Roman Dann schlaf auch du. Der doppelte Kindsmord durch eine Nanny ist so furcht- und unerklärbar wie die Bataclan-Anschläge; zwar ohne Bezug dazu, aber doch aus dem Nichts gekommen und brutal in den Alltag durchschnittlicher Bürger und Familien eingebrochen.

Die Zeit der Selbstbespiegelung ist vorbei, die neue französische Literatur im Aufwind. Noch ist für sie kein Begriff gefunden wie einst für den "nouveau roman". Der Trend ist nicht einheitlich. Aber viele Autoren kommen heute direkt zur Sache, werden konkret und direkt, mit unfranzösisch kurzen, schnörkellosen Sätzen. Französisch bleibt die Stilsicherheit; ansonsten werden diese jungen Wilden, oft auch junge Schwule, gerne krud und konkret, persönlich und politisch. Bei Mathieu Riboulet etwa ist der Körper beides; ebenso bei Didier Eribon, der mit der Rückkehr nach Reims international eingeschlagen hat, oder bei Édouard Louis (Das Ende von Eddy, Im Herzen der Gewalt). Ihre autobiografischen Berichte sind nicht autofiktiv, sondern verfließen mit der politisch-sozialen Gewalt des provinziellen oder Pariser Alltags. Als hätte die staatliche Anerkennung der Homo-Ehe 2013 für dieses Autorentrio wie ein Befreiungsschlag gewirkt.

Fast liebenswürdig scheinen dagegen die Stars des veritablen französischen Krimis, Fred Vargas und Dominique Manotti. Aber auch sie scheuen weder bluttriefende Gewalt noch die brisantesten Themen der französischen Gesellschaft – von der Nazi-Kollaboration bis zum Algerienkrieg; und gerade weil sie darüber nicht politisch theoretisieren, sondern diese verdrängten Vergangenheiten in ihrer alltäglichen Banalität schildern, bleibt alles, Suspense inklusive, ausgesprochen politisch. Dasselbe gilt für die grausam-eleganten Essays von Éric Vuillard. In Kongo schreibt er, Afrika habe nichts Geheimnisvolles – exotisch sei einzig das Verhalten der Europäer auf der Kongo-Konferenz von 1884 gewesen.

Französische Autoren sind heute international erfolgreicher denn je – und zwar nicht nur in einer Gattung wie etwa dem skandinavischen Krimi. In der Low-Cost-Literatur – früher "Bahnhofroman" genannt – liefern die siamesischen Zwillinge Guillaume Musso und Marc Levy abwechselnd Fließband-Topseller. Bei den Comics sahnen die neuen Asterix-Macher oder Riad Sattouf (Der Araber von morgen) ab, bei den Jugendwerken der Petit Prince genauso wie der Petit Nicolas.

Im Pariser Hauptgeschäft des Freizeitanbieters Fnac stapeln sich die frankophonen Bestseller bis an die Decke. "Frankophon"? Ja, so heißt in der Fnac neuerdings die Abteilung, die früher dem "französischen" Roman gewidmet war. Das ist eine Revolution: Heute laufen Balzac, Flaubert oder Sartre in der Sparte "roman francophone". Pariser Literaten hätten ihn noch vor kurzem als Anhängsel der hehren französischen Kultur bezeichnet. Jetzt sorgt er für ihr literarisches Überleben. Direkte frankophone Nachbarn wie die Belgierin Amélie Nothomb oder der Westschweizer Joël Dicker treiben die Auflagezahlen von Übersetzungen aus dem Französischen ebenso hoch wie die ungarisch-iranische Dramatikern Yasmina Reza, die in Deutschland derzeit mit dem Roman Babylon Furore macht.

Das Gleiche gilt für ehemalige französische Kolonien wie Marokko oder Algerien, deren Exilautoren wie Yasmina Khadra oder eben Leïla Slimani weltweit ankommen. Weiterhin in der Nähe von Algier – und damit in ständiger Lebensgefahr – lebt Boualem Sansal, der mit 2084 den Alltag in einer religiösen Diktatur schildert. Seine Orwell'sche Chronik des fiktiven Gottesstaates Abistan beeindruckt aber mehr noch als Houellebecqs Unterwerfung.

Komischer und derber ist Alain Mabanckou mit tragikomischen Werken wie Stachelschweins Memoiren. Der Kongolese bringt eine neue stilistische Dimension in die "frankophone" Literatur, die er heute selber an der kalifornischen Universität UCLA lehrt. "Die französische Sprache ist größer als Frankreich", meint Mabanckou unter anderem. Absätzelang sind die Sätze bei Marie NDiaye, neu zu goutieren in Die Chefin. In diesem "Roman einer Köchin" erzählt die Franko-Senegalesin von einem sehr französischen Thema, aber eben auf ihre wie immer sehr originelle Weise, subtil und virtuos. Frankophon eben.

Wenn sich der französische Buchmarkt trotz der internetbedingten Strukturkrise zu halten vermag, verdankt er das nicht zuletzt der Bandbreite der "frankophonen Literatur", die als Begriff vielleicht schon bald so sinnlos ist wie "englischsprachige Literatur".

Sinn macht er kommerziell: Die Lizenzverkäufe französischsprachiger Werke in andere Länder nehmen konstant zu. Immer mehr Belletristik, Comics, Kinder- und Jugendbücher werden aus dem Französischen in zahllose andere Sprachen übersetzt. Den Großverlagen wie Gallimard, Grasset oder Seuil – heute in Händen großer Konzerne wie etwa Hachette – wird häufig vorgeworfen, sie spezialisierten sich nicht genug. Dank der vielen Gattungen und frankophonen Autoren können sie Flauten an einer Front ausgleichen. Deshalb haben sie sich nach dem ersten Amazon-Schock erfangen. Frankreich verfügt weiter über ein dichtes Netz von Buchhandlungen. Nach einem Einbruch vor vier Jahren haben sich 2000 unabhängige Verkaufsstellen gehalten. Der Staat hilft mit Steuervorteilen, Subventionen und dem Label "unabhängige Referenzbuchhandlungen" (LiR). (Stefan Brändle, Album, 7.10.2017)