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Gusenbauer-Triumph von 2006: Mutmacher für die Kurz-Gegner.

Foto: Reuters / Miro Kazmanovic

Endlich durfte der Spitzenkandidat schwitzen. Beim TV-Duell ein paar Tage zuvor, da hatte der Gegner noch über die Schweißperlen auf Alfred Gusenbauers Oberlippe gelästert, doch am Abend des 1. Oktober 2006 spottete niemand mehr. Wie ein Volkstribun zog der Sieger ins dampfende Festzelt ein, von allen Seiten streckten sich ihm Hände entgegen. Kids in roten T-Shirts kreischten, als würde eine Rockband die Bühne erklimmen, gut befeuchtete Kehlen skandierten: "Hier! Regiert! Die SPÖ!"

Dabei hatte es in diesem Wahljahr lange nicht nach einem roten Triumph ausgesehen. Während schwarz-blaue Minister als Gastgeber der EU-Ratspräsidentschaft übers diplomatische Parkett getänzelt waren, hatte sich der korpulente Gusenbauer in Leggings gezwängt, um durchs Land zu wandern – nicht das einzige Mal, dass er in den Medien belächelt wurde.

Und dann war da noch der Skandal um die gewerkschaftseigene Bawag-Bank, der auch die SPÖ in den Abgrund zu ziehen drohte. "Aus jetziger Sicht scheint die Wahl verloren zu sein," kommentierte der STANDARD im Juli.

Mutmacher für die Konkurrenz

"Die ÖVP lag stabil vorne", erinnert sich Heidi Glück, damals rechte Hand von Kanzler Wolfgang Schüssel. Alle hätten ein "supergutes Gefühl" gehabt nach der aus Binnensicht erfolgreichen Arbeit – und dabei verkannt, dass das Volk keinesfalls so euphorisch über schwarz-blaue Taten gewesen sei, wie das die Eigenwerbung ("größte Steuerreform aller Zeiten") suggerierte. "Die Leute wollen dich kämpfen sehen", sagt Glück, "doch unser Wahlkampf war fad und etwas abgehoben. Wir haben uns einlullen lassen."

Die Geschichte taugt als Mutmacher für die Konkurrenz. Ist das Rennen um Platz eins trotz des Riesenvorsprungs von Sebastian Kurz in den Umfragen noch nicht entschieden? Geht da noch was?

Zum Leidwesen der Verfolger gibt es Unterschiede zu damals. Kurz ist nicht Titelverteidiger, sondern in der Herausfordererrolle – in den Geruch der Saturiertheit wird er schwerlich geraten. Vor allem aber war der Abstand in den Umfragen seinerzeit geringer.

Zwar stuften selbst SPÖ-interne Zahlen einen Gusenbauer-Sieg drei Tage vor der Wahl als höchst unwahrscheinlich ein, doch mehr als vier Prozentpunkte lag Schüssel nicht vorn – was innerhalb der Schwankungsbreite von in der Politik üblichen Umfragen liegt.

Ähnliches gilt für gefühlte Sensationen der Vergangenheit. Unmittelbar vor der US-Wahl 2016 gab Umfragen-Guru Nate Silver Hillary Clinton eine Siegeswahrscheinlichkeit von 71 Prozent; doch eine 30-Prozent-Chance für Donald Trump sei eben auch nicht vernachlässigbar, sagt der Wahlforscher Peter Filzmaier: "Die sich verselbstständigende öffentliche Meinung" stelle ein Rennen mitunter eindeutiger dar als die Demoskopie ausweise. So zu beobachten auch beim Brexit, als viele Kommentatoren ein Ja zur EU für gesichert hielten.

Spätentschlossene

Experten halten deshalb ein anderes Beispiel für markanter. Bei der deutschen Wahl 2005 hat Kanzler Gerhard Schröder zwar wie vorausgesagt gegen Angela Merkel verloren, doch statt bis zu zehn Prozentpunkte wie in Umfragen betrug der Abstand nur einen einzigen. 40 Prozent Spätentschlossene hätten den Erdrutschsieg zur Zitterpartie gemacht, sagt Filzmaier.

Bei der aktuellen heimischen Wahl weisen Daten von letzter Woche zwar "nur" 15 Prozent an "Late Decidern" aus, aber auch die könnten einigermaßen umrühren. "Die zutiefst menschliche Sehnsucht nach der Glaskugel", warnt der Wahlforscher, "ist nicht zu erfüllen."

"Große Wählergruppen sind in Bewegung", sagt der Politikberater Thomas Hofer, geht aber dennoch davon aus, dass es so kurz vor einem Urnengang schon einen Knalleffekt brauche, um ein Favoritensterben einzuleiten. Wieder ist Schröder ein Role-Model.

Als einen Monat vor der Wahl 2002 die Elbe über die Ufer trat, stiefelte er mediengerecht durchs Hochwasser, während der hochfavorisierte Konkurrent Edmund Stoiber fatalerweise eine Einladung zu einem Fest auf einer Nordseeinsel angenommen hatte. Kanzler im Kriseneinsatz, Gegner auf Urlaub – diese Bilder brannten sich fest.

Noch dramatischeres Beispiel: Drei Tage nach den verheerenden Terroranschlägen von Islamisten in Madrid 2004 wählten die Spanier den krassen Außenseiter José Luis Zapatero, bislang als farblos verschrien, zur Nummer eins. Die regierende Volkspartei hatte in einem durchsichtigen Manöver versucht, das Attentat der baskischen Eta unterzuschieben.

Scheue Rehe im Lager Kurz

Einen großen Knall gab es im österreichischen Wahlkampf glücklicherweise nur im übertragenen Sinn, die politischen Detonationswellen aber breiten sich aus. Seit die Meldung aufpoppte, dass die ÖVP angeblich Geld für Spionagedienste beim Gegner angeboten habe, trifft die Causa Silberstein nicht mehr nur die SPÖ. "Eine Implosion der Kurz-Kampagne ist das noch nicht", sagt Hofer, "aber heikel allemal."

Schließlich fänden sich unter Kurz' Sympathisanten viele frühere FPÖ- oder Nichtwähler: "Diese Anhänger sind wie scheue Rehe. Wenn da das Gefühl aufkommt, dass sie wieder nur das alte rot-schwarze Hickhack bekommen, können die schnell wieder weg sein."

Gleichzeitig lässt sich Hofer, quasi stellvertretend für alle Prognostiker, auf eine Festlegung ein: "Wenn die SPÖ das noch gewinnt, dann können wir alle miteinander einpacken." Aber es gibt eben noch andere Bewerber. Von der Silberstein-Affäre, sagt Kommunikationsberaterin Glück, profitiere vor allem eine Partei: die FPÖ. (Gerald John, 7.10.2017)