Dreizehn Tänzerinnen, Performer und Musiker agieren in dem Stück von Marlene Monteiro Freitas. Es gehört zu den brillantesten Werken der Gegenwartschoreografie.

Foto: Filipe Ferreira

Graz – Aus dem Hintergrund sickert ein Song, Unchained Melody in der Version der Righteous Brothers von 1965, zerschrammt von Störgeräuschen, aufgesprengt durch eine Büchse, die knallt: "... Are you still mine? I need your love ...". Das erinnert an die niederschmetternde Livekonzertaufnahme des Hits von einem schweißtriefenden, wie ein betrunkener Dionysos aufgedunsenen Elvis Presley aus dessen Todesjahr 1977.

Die Einspielung der Unchained Melody trägt eine der vielen genialen Szenen in dem Tanzstück Bacchae – Prelude to a Purge der kapverdischen Choreografin Marlene Monteiro Freitas (38), das im April in Lissabon uraufgeführt wurde und jetzt beim Steirischen Herbst im Grazer Schauspielhaus erstmals in Österreich zu sehen war.

Euripides' Tragödie Die Bakchen meldet sich in Anspielungen und Zitaten. Aus der ursprünglichen Handlung hat Freitas allerdings ein aberwitziges Treiben gemacht. Der blinde Seher Teiresias tritt da als Frau und als Mann auf, wie es den unterschiedlichen Legenden um seine Blendung entspricht. Und Thebens Herrscher Pentheus ist ein lockenumkränztes Hinterteil, das ein Lied ins Publikum trötet. Bei Euripides verspottet Dionysos den in Frauenkleidern vor ihm Stehenden: "Nur löste sich aus ihrem Sitz die Locke dir ...".

Blutige Schnauzen zum "Bolero"

Alle dreizehn Tänzerinnen und Performer, Musiker und Mänaden werden bei Freitas zu Teilen eines detailreichen Spiels über die Allüren, Listen und Lüste des hellenischen Wein-Weib-Gesang- und Theatergottes. In diesem Spiel haben sich die bacchantischen Thyrsosstäbe in Notenständer verwandelt, die auch als Gewehre eingesetzt werden. Ein fabelhaftes Trompeterquintett führt durch das Stück, Pfeifen trillern, und Sirenen wie aus George Antheils Musik in Fernand Légers Film Ballet mécanique (1924) heulen. Louis Armstrong und Anita Berber mischen mit. Als Filmeinspielung ist zwischendurch eine nicht assistierte Geburt zu sehen.

Freitas' Bacchantinnen tanzen im Sitzen auf Hockern, geraten in Ekstasen, verwandeln sich in Marionetten und Monstren, deren blutige Schnauzen jenen von Sternnasenmaulwürfen ähneln, während Maurice Ravels Bolero seinem Höhepunkt zutreibt. Noch bevor Unchained Melody den Auftritt zweier Männer mit durch Masken grotesk vergrößerten Mündern untermalt und zum abschließenden Bolero überleitet, zitiert Freitas' Teiresias den tieftraurigen, von der Puccini-Arie Con onor muore begleiteten Monolog des sich zur Butterfly schminkenden René Gallimard in David Cronenbergs Film M. Butterfly (1993): "Liebe verzerrte mein Urteilsvermögen, blendete meine Augen. Und jetzt, wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich nichts, außer ...". In diesem "nichts, außer ..." spiegelt sich die unsägliche Tragödie des unter dem Einfluss des rachsüchtigen Dionysos als Frau verkkleideten Pentheus bei Euripides.

Marlene Monteiro Freitas hat Die Bakchen zerrissen wie darin die von dem Gott benebelten Mänaden den Pentheus, dessen Mutter Agaue den Kopf ihres zerfleischten Sohnes für einen Tierkopf hält und als Trophäe nach Hause trägt. Doch anders als Euripides schließt sie den Akt des "Augenöffnens" und Erkennens aus. Ihr Stück endet seinem Untertitel gemäß tatsächlich als Prelude to a Purge, als "Vorspiel für eine Reinigung". Das klingt bedrohlich nach einer gefährlichen Vision.

Kein Bedeutungsgerüst

Wie auch in früheren Arbeiten – in Wien bei den Festwochen war 2014 ihr Solo Guitche und 2016 die Gruppenchoreografie De marfim e carne – as estátuas também sofrem zu sehen und bei Impulstanz vor zwei Monaten ihr mit Andreas Merk geschaffenes Duett Jaguar – trägt Freitas hier kein Bedeutungsgerüst vor sich her. Soll heißen: In dem penibel konstruierten, scheinbaren Chaos auf der Bühne bleibt dem Publikum die Freiheit der Lektüre voll erhalten. Bacchae – Prelude to a Purge gehört in seiner Anlage und überwältigenden Umsetzung auf der Bühne zu den brillantesten Werken der Gegenwartschoreografie. Das Grazer Publikum würdigte das mit begeistertem Applaus. (Helmut Ploebst, 8.10.2017)