Tausende Spanier fordern in Barcelona den Dialog.

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Elisenda Paluzie: "Madrid müsste die Staatsschuldenlast allein tragen."

Jan Marot

STANDARD: Wie lassen sich weitere schwerwiegende Folgen für die Wirtschaft Kataloniens, Spaniens und der EU abwenden?

Paluzie: Die Unsicherheit gehört beendet. Man muss die Situation entschärfen. Die Angstkampagne der spanischen Regierung lässt viele glauben, man schade nur der katalanischen Wirtschaft. Die spanische wird aber mehr als wir leiden. Spanien wird Hauptgeschädigter sein. Und mit Spanien ganz Europa – in einem äußerst heiklen Moment. Der Ibex-35 an der Madrider Börse wird abstürzen. Die Risikoaufschläge für Staatsanleihen werden rasant steigen.

STANDARD: Was bedeutet die Verlegung der Sitze wichtiger Banken?

Paluzie: Es wird nur der Geschäftssitz verlegt. Die Büros, Angestellten und Filialen bleiben hier. Solange wir nicht unabhängig werden, bedeutet es nichts. Banken führen die Unternehmenssteuern über Madrid ab. Katalonien hat an diesen Einnahmen keinen Anteil. Auch Mehrwertsteuern gehen an Madrid. Lohnsteuern der Angestellten, die weiter hier arbeiten, fließen ebenso an den Staat. Katalonien bekommt davon 50 Prozent rücküberwiesen. Sprich auf die Wirtschaft Kataloniens hat das fürs Erste keinerlei Einfluss.

STANDARD: Und für ein künftig gar unabhängiges Katalonien?

Paluzie: Die Banken werden als Vorsichtsmaßnahme ihren Hauptsitz im Territorium der Währungsunion belassen wie in Valencia, Alicante, Mallorca. Dann müssten sie eine katalanische Tochter gründen. Wie es üblich ist: für die Banco Sabadell in London, aber auch für US-Banken wie Citi in der EU, um an wichtige EZB-Mittel zu kommen. Dann müsste Caixa-Bank etwa alle Abgaben für Geschäfte in Katalonien an die katalanische Steuerbehörde abführen. Da Doppelbesteuerung verboten ist, bekäme Madrid davon nichts. Für die Generalitat Kataloniens wäre es ein Einnahmenplus.

STANDARD: Wie steht es um die Investmentholding Criteria Caixa, die auch bedeutende Anteile an der Erste Bank Group hält?

Paluzie: Criteria ist für Caixa-Bank ein hochprofitabler Geschäftsteil: mit Investments in regulierte Sektoren, sei es Abertis mit Mautautobahnen oder Gas Natural im Energiesektor. Im Falle einer Unabhängigkeit würden diese Einnahmen an den katalanischen Staat fließen. Dieser würde die Regulierung der Märkte übernehmen.

STANDARD: Viel Lärm um nichts?

Paluzie: Es scheint, als gebe es großen Druck seitens der spanischen Zentralregierung, um diese Konzerne zum Abzug zu bewegen. Am Freitag wurde ein Eildekret beschlossen, das besagt, der Umzug könne allein mit Stimmen der Geschäftsführung beschlossen werden – was diesen Prozess extrem beschleunigt und vereinfacht. Das Timing dient dazu, Druck auszuüben und Angst zu schüren, damit es nicht diese Woche zur Unabhängigkeitserklärung kommt. Es sieht nach Methoden moderner Kriegführung über Wirtschaft, soziale Netzwerke und Medien aus.

STANDARD: Wie sieht es mit wichtigen Industriezweigen aus?

Paluzie: In der Industrie sind Entscheidungen langfristiger angelegt als im Finanzsektor. Katalonien ist geografisch privilegiert, mit Häfen, Straßen- und Zugverbindungen nach Frankreich und Europa. Deutsche Konzerne haben hier über viele Jahre enorm investiert, ob die Chemieindustrie mit BASF bei Tarragona oder Seat-Volkswagen. Sie werden nicht abziehen. Die EU-Mitgliedschaft ist hier nicht derart essenziell. Wichtig ist es, den Zugang zum gemeinsamen Wirtschaftsraum offenzuhalten – und bestenfalls die Euro-Mitgliedschaft ohne Zölle.

STANDARD: Sind bilaterale Verträge eine Übergangslösung?

Paluzie: Die EU agiert in solchen Szenarien pragmatisch, wie auch Freihandelsabkommen mit der Schweiz oder Efta-Abkommen mit Norwegen und Island beweisen. Aber auch die Türkei ist hier nicht zu vergessen, die Teil der gemeinsamen Zollunion ist. Solche Verträge existieren auch mit Lateinamerika und den Maghrebstaaten. Hier ist keine Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten nötig: Madrid hat keine Vetomacht.

STANDARD: Welchen Teil der spanischen Staatsschulden würde Katalonien im Fall der Fälle tragen?

Paluzie: Das wäre unsere Waffe in Verhandlungen: Erkennt Spanien die Unabhängigkeit Kataloniens nicht an, wird das Königreich Spanien, das die Anleihen und Bonds gezeichnet hat, sie zur Gänze tragen müssen – und die Zinsen, die bei einer Eskalation steigen werden. Die Staatsschuldenlast Madrids würde auf 120 bis 130 Prozent wachsen. Das könnte eine neue Schuldenkrise auslösen, nicht allein in Spanien, in ganz Europa. (Jan Marot, 9.10.2017)