In den beiden letzten Blogbeiträgen beschäftigte uns ein seltsames Phänomen, das revolutionäre – und pseudorevolutionäre – Bewegungen regelmäßig zu begleiten scheint. In einer berühmten Passage des "Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte" spricht Marx von revolutionären Subjekten, die sich als Gestalten der Vergangenheit verkleiden: von den Teilnehmern der Französischen Revolution, die sich als Bürger der altrömischen Republik "drapierten", von Napoleon, der sich als römischer Kaiser imaginierte, Luther, der sich als Apostel Paulus "maskierte" und Oliver Cromwell, Führer der englischen Revolution, der sich mit den Propheten des Alten Testaments identifizierte.¹

Seltsame Rückfälle in die Vergangenheit

Diese seltsamen Rückfälle in die Vergangenheit – gerade in Zeiten, in denen die Gesellschaft sich anzuschicken scheint, eben diese Vergangenheit zu überwinden, hatten wir ausgehend von Sigmund Freuds Verwendung des Begriffs "Regression" in der "Traumdeutung" zu analysieren – und zu klassifizieren – versucht (siehe den Blogbeitrag "Was islamische Gotteskrieger von Französischen Revolutionären unterscheidet"):

Die Revolutionäre der Französischen Revolution identifizierten ihre neu gegründete Republik mit der altrömischen res publica, waren sich der Unterschiede zwischen jener antiken Staatsform und dem modernen Repräsentativsystem ihres eigenen Staates aber durchaus bewusst. Sie waren, anders gesagt, mit den Bürgern der antiken römischen Republik identifiziert – aber nicht identisch.

Die Gotteskrieger des Islamischen Staates hingegen führen einen Krieg, den sie nicht bloß als symbolische Reinszenierung der Heiligen Kriege des frühen Islam betrachten. IS-Kämpfer sind mit den islamischen Gotteskriegern in den Tagen Mohammeds nicht bloß identifiziert – sie sind islamische Gotteskrieger.

Den Rückgriff der Französischen Revolutionäre auf die Antike nannten wir – in Anlehnung an Freuds Theorie des Traums – eine symbolische Regression vom Typus Erinnerung. Jenen der IS-Kämpfer auf das Gotteskriegertum des frühen Islam eine (scheinbar) reale Regression vom Typus Halluzination.

Und die Oktoberrevolution?

Im Falle der iranischen Revolution des Jahres 1979 liegen die Dinge komplizierter. 1979 scheinen im Iran beide Momente eine Rolle gespielt zu haben – Erinnerung und Halluzination. Die bürgerliche und linke Opposition gegen den Schah fasste den – durch Khomeini repräsentierten – Rückgriff auf den Islam als rein symbolischen Akt der Erinnerung auf, ähnlich der Bezugnahme der Französischen Revolutionäre auf die antike res publica. Khomeini aber, der unbestrittene Führer der Revolution, sprengte den Rahmen des Symbolischen. Seine Bezugnahme auf den Islam war durch und durch "real". Die symbolische Erinnerung verwandelte sich in eine (scheinbar) reale – alptraumhafte – Halluzination.

Und die Oktoberrevolution? Gerade dieser Revolution, die sich ja explizit auf Marx berief, scheint jener von Marx beschriebene Rückgriff der Revolutionäre auf die Vergangenheit zu fehlen. Wir könnten hier allenfalls Lenins Sympathien für die "Narodniki" ins Feld führen, eine literarische und sozialrevolutionäre Bewegung, welche die Traditionen russischer Bauern gegen den modernen Kapitalismus in Stellung brachte. Aber die Ideologie der Narodniki war zu Lenins Lebzeiten noch lebendig, musste also, im Unterschied zu den historischen Beispielen, die Marx anführt, nicht erst reanimiert werden.

In den Diskursen der russischen Intelligenzija um 1900 findet sich allerdings eine vor und auch nach der Oktoberrevolution sehr einflussreiche und für unseren Zusammenhang hochinteressante Denkströmung: Der Biokosmismus.

Statue des Konstantin Ziolkowski beim Kosmonautenmuseum in Moskau.
Foto:istockphoto.com/at/portfolio/maria_oleinikova

Biokosmismus

Die Biokosmisten waren überzeugte Kommunisten und vertraten die These, dass sich der Sieg der Oktoberrevolution dem Leiden und den Kämpfen zahlreicher vorangegangener Generationen verdanke. Ihre eigene Generation, die den Sieg der Revolution miterleben durfte, sahen sie folglich in der Schuld aller vorangegangenen Generationen. Vollendet, so die Biokosmisten, sei die Revolution daher erst dann, wenn es gelänge – zum einen – die Toten der vorangegangenen Generationen wieder zum Leben zu erwecken, um sie an den Segnungen des Kommunismus teilhaben zu lassen. Und – zum anderen –, "das Privateigentum an Lebenszeit" abzuschaffen, will sagen: allen Lebenden und zum Leben Erweckten das ewige Leben zu ermöglichen.

Das alles klingt zwar verrückt und erinnert an religiöse Endzeitvisionen, an die Auferstehung und das Jüngste Gericht. Der Biokosmismus trat jedoch mit einem starken wissenschaftlichen Anspruch auf und hatte großen Einfluss auf die frühe sowjetische Wissenschaft – aber auch auf Künstler wie Krassimir Malewitsch. Laut Alexander Kluge forschten zeitweise bis zu 46 Institute der sowjetischen Akademie der Wissenschaften über Möglichkeiten der Verjüngung – und der Unsterblichkeit.² Und so unglaublich es klingen mag – die Sowjetunion verdankte den Biokosmisten den Ursprung ihres Raumfahrtprogramms: Konstantin Ziolkowski, Science-Fiction-Fan und Biokosmist der ersten Stunde, befürchtete, dass es für die zum Leben erweckten Toten nicht genug Platz auf der Erde geben würde und wollte sie auf fremden Planeten ansiedeln. Er widmete sich daher der Raketenforschung, wurde zum Begründer der modernen Kosmonautik und – zum Vater der sowjetischen Raumfahrt.

Das Erwecken der Geister der Vergangenheit

In der oben erwähnten Passage des "Achtzehnten Brumaire" spricht Marx von der "Tradition aller toten Geschlechter" die "wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden" laste.

Und fährt fort:

"Wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen [...], gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf."³

Die Ideen der Biokosmisten erwecken den Eindruck, als hätte jemand die Marxsche Rede von der Beschwörung der Geister der Vergangenheit ganz buchstäblich genommen – konkretistisch, um es im Jargon der Psychiater zu sagen. Als konkretistisch wird jenes für bestimmte Wahnkrankheiten typische Denken bezeichnet, das die metaphorische Bedeutung von Aussagen nicht zu erfassen vermag und an deren konkreten Sinn haften bleibt. So betrachtet, ist die biokosmistische Regression eines großen und einflussreichen Teiles der russischen Revolutionäre weit halluzinatorischer als etwa der Rückgriff der 1979er Revolution im Iran auf den Islam.

Aber: Zwischen dem Biokosmismus und anderen revolutionären Regressionen existiert ein grundlegender Unterschied. Die Teilnehmer an der Französischen und auch an der iranischen Revolution griffen auf die Vergangenheit zurück, um ihr – in den Worten von Marx – "Namen, Schlachtparole [und] Kostüm"⁴ zu entlehnen; wollten in der – und durch die – Vergangenheit die Gegenwart erlösen. Anders die Biokosmisten: Für sie ist es – umgekehrt – die Vergangenheit, die der Erlösung in der Gegenwart bedarf: All die vorangegangenen Generationen, die gekämpft und gelitten hatten, um dann unerlöst zu sterben – unerlöst weil sie ja die Revolution nicht miterleben durften –, wollten sie zum Leben erwecken, um ihnen in der revolutionären Gegenwart die Erlösung zu ermöglichen.

"Schwache messianische Kraft"

Das erinnert an einen Jahre später formulierten, rätselhaften Gedanken des Philosophen und Literaturkritikers Walter Benjamin, der davon spricht, dass der Gegenwart eine "schwache messianische Kraft" innewohne, "an der die Vergangenheit Anspruch" habe. Ähnlich wie die Biokosmisten schreibt also auch Benjamin der Gegenwart das Potential – und die Verpflichtung – zu, die Vergangenheit zu erlösen. Mit dieser schwachen messianischen Kraft sei jede Gegenwart ausgestattet, so Benjamin. Wohingegen erst die am Ende der Geschichte "vollständig erlöste" Menschheit über jene "starke" messianische Kraft verfüge, auch die Vergangenheit vollständig zu erlösen.⁵

Die Biokosmisten, die Marx scheinbar ganz buchstäblich nahmen, waren also nicht bloß Marxisten à la lettre, sondern auch Benjaministen à und avant la lettre.

Aber wie sollen wir Benjamins dunkle Rede von der Erlösung der Vergangenheit durch die Gegenwart verstehen? Wie in aller Welt könnte denn die Gegenwart die Vergangenheit erlösen? (Sama Maani, 10.10.2017)

Fortsetzung folgt

¹ Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Frankfurt am Main 2007, S. 10 f

² Ebd. S. 9

³ Ebd.

Kluge, Alexander: Das Bohrern harter Bretter (wienerzeitung.at)

⁵ Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: ders., Gesammelte Schriften I.2, Frankfurt am Main 1991, S. 694

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