"Kein Raila, keine Wahl" – und auch kein Frieden. Die Anhänger der kenianischen Opposition wollen weiter für Wahlreformen agitieren.

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"Seid vorsichtig", flüstert ein junger Mann, "heute wird es gefährlich." In der Ferne sind schwarze Rauchwolken zu sehen: Sie stammen von Reifen, die Demonstranten an einem Kreisverkehr in der am Viktoriasee gelegenen kenianischen Provinzhauptstadt Kisumu angezündet haben. "No reform, no elections", rufen Jugendliche, die mit Körben voller Steinbrocken herumtanzen; "Uhuru ist ein Dieb", ruft ein Mann im orangenen T-Shirt der Opposition und meint damit den Präsidenten Kenias, Uhuru Kenyatta.

Ein neuer Tag in der Hochburg des kenianischen Volks der Luo, ein weiterer Tag des Blutvergießens. Seit die unter den Luo populäre Oppositionsallianz Nasa (National Super Alliance) am Dienstag beschloss, die für den 26. Oktober anberaumten Neuwahlen zu boykottieren, ist die emotionale Temperatur weiter gestiegen: Eine Wiederholung der Vorgänge von vor zehn Jahren, als bei Unruhen nach den Wahlen mehr als 1.200 Menschen getötet wurden und über eine halbe Million floh, scheint immer wahrscheinlicher.

Die Entscheidung der Opposition, den Urnengang zu boykottieren, hat die Verwirrung in Kenia perfektioniert. In den TV-Sendern diskutieren Politiker stundenlang die verfahrene Lage: Zu einem Ergebnis kommen sie nicht. Ende August hatte Kenias höchstes Gericht die Präsidentschaftswahl vom 8. August mit einer in Afrika bisher beispiellosen Entscheidung für null und nichtig erklärt: Die dem Namen nach unabhängige Wahlkommission habe Fehler begangen. Damals war der amtierende Präsident Kenyatta mit angeblich 54 Prozent der Stimmen zum Sieger über Odinga (44 Prozent) erklärt worden: Doch die miserabel dokumentierte Auszählung der Stimmen und ein möglicher – aber nicht bewiesener – Zugriff von Hackern auf das elektronische Wahlsystem ließen die Richter die rote Karte zücken.

Unerfüllte Forderungen

Die Forderung der Opposition, die Wahlkommission neu zu besetzen, wurde aber nicht erfüllt. Stattdessen machte sich das Regierungsbündnis Jubilee im von der Opposition boykottierten Parlament daran, das Wahlgesetz zu "reformieren". Eine der entscheidenden Veränderungen sollte die Bestimmung sein, dass im Fall des Nichtantritts eines der beiden Präsidentschaftskandidaten keine Neuwahl mehr nötig sei: In diesem Fall hätte Uhuru Kenyatta bereits nach der Boykottankündigung der Opposition zum Präsidenten vereidigt werden können. Odinga war allerdings schneller: Schon vor der Verabschiedung der Gesetzesnovelle am Mittwoch hatte er am Dienstag seinen Boykott erklärt – wohl wissend, dass kein Gesetz rückwirkend vollzogen werden kann. Außerdem erreichte einer der anderen ursprünglichen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl am Mittwoch vor Gericht, dass auch er bei den Neuwahlen nochmals antreten darf. Die Wahl muss also stattfinden.

Damit ist der Konflikt allerdings nicht aus dem Weg geräumt. Die Opposition besteht darauf, dass die Wahl um insgesamt 90 Tage verschoben und die Wahlkommission neu besetzt wird. Ohne eine nochmalige Anrufung des höchsten Gerichts oder eine politische Einigung scheint es kein Entrinnen zu geben: Doch die Gemüter sind inzwischen so erhitzt, dass daran kaum noch zu denken ist.

Am Nachmittag sitzt Kisumus Gouverneur Anyang Nyong'o, der die Proteste begleitet hat, frischgeduscht in seinem Büro: Der dem Oppositionsbündnis angehörende Politikprofessor weiß auch nicht, wie es nun weitergehen soll. Nasa hat seine Anhänger aufgerufen, dreimal wöchentlich auf die Straße zu gehen. Ob die Rechnung aufgeht und welcher Preis dafür zu zahlen ist, kann auch Nyong'o nicht sagen. Während des Interviews klingelt sein Telefon: Aus vielen Teilen des Landes, einschließlich der Hauptstadt Nairobi, werden gewalttätige Zwischenfälle gemeldet. Kugeln der Polizei haben in Kisumu seit Anfang August sieben Menschen getötet. Es werden nicht die letzten gewesen sein. (Johannes Dieterich aus Nairobi, 11.10.2017)