Virginie Despentes: "Ich glaube, die Generation der Fünfzigjährigen kennt diesen Verlust einer ganzen Welt."


Foto: JF Paga

Virginie Despentes, "Das Leben des Vernon Subutex". € 22,70 / 400 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, 2017

Cover: Kiepenheuer & Witsch

Oktober in Paris, die Sonne scheint, im nahen Parc des Buttes-Chaumont pfeifen die Vögel, und im Bistro sitzen die Flaneure auf der Terrasse. Einige erkennen Virginie Despentes, wie sie, groß gewachsen und ganz in Schwarz, zum Interview erscheint. In dem Hinterzimmer des herrlich altmodischen Cafés bestellt sie einen Schwarztee. Nicht weil der zu ihrem Outfit – nur das T-Shirt, Aufschrift "Fuck Austerity", ist weiß – passen würde, sondern weil sie keinen Alkohol mehr anrührt. Vorbei die Hardcorezeiten, als sie in Lyon lebte, alles konsumierte, was Gott verboten hat, abends auf den Strich ging und Skandalbücher schrieb.

In Anlehnung an das dortige Quartier Despentes (zu Deutsch: Abhänge) hat sie sich mit 25 einen neuen Namen gegeben. Sie wohne gern "am Hang", erzählt sie, wie jetzt an den Buttes-Chaumont oder zuvor an der Hügelseite von Montmartre. "Ich mag dieses Bild der Schräglage", meint sie mit angenehmer Stimme. "Im Leben geht es auch meist auf- oder abwärts; man lebt selten im Flachland vor sich her."

Despentes ist der Rockstar der französischen Literatur. Die 48-Jährige macht derzeit mit ihrer Romantrilogie Vernon Subutex Furore. Bekannt wurde sie in den 1990ern mit ihrem Skandalroman Baise-moi (Fick mich); der gleichnamige Film wurde in vielen Ländern verboten. Despentes hatte ihre Eltern, zwei kommunistische Postbeamte in Lothringen, früh verlassen und lebte in der Subkultur von Lyon. Auf einer Rückreise von London wurde sie beim Autostoppen mit 17 vergewaltigt. Später arbeitete sie als Putzfrau und Gelegenheitsprostituierte. Nach Paris gekommen, schrieb sie Pornofilmkritiken.

Ihren ersten Roman Baise-moi – eine Sex- und Gewaltodyssee zweier junger Frauen – verfasste sie in nur einem Sommermonat. Nach vielen Versuchen, einen Abnehmer zu finden, verlor sie das Manuskript; ein Freund hatte aber mit einer Kopie Erfolg bei einem Kleinverlag. Damit begann Despentes' Aufstieg. Sie sagte sich von Alkohol und Drogen los und fand mit 35 zur Homosexualität.

Von ihren Romanen erschienen Apokalypse Baby, Pauline und Claudine und King Kong Theorie auf Deutsch. Bye Bye Blondie verfilmte Despentes 2012 selbst mit Béatrice Dalle und Emmanuelle Béart. 2015 veröffentlichte Despentes, die heute in Paris und Barcelona lebt, den ersten Band von Vernon Subutex. Die Geschichte eines Schallplattenhändlers, der im Internetzeitalter seinen Laden und seine Orientierung verliert, wird derzeit verfilmt. Auf Deutsch ist der erste Band erschienen; der zweite soll 2018 folgen.

STANDARD: Frau Despentes, wie kamen Sie zu "Vernon Subutex"?

Despentes: Als ich 2012 aus Barcelona nach Paris zurückkehrte und zu schreiben begann, waren um mich herum alle deprimiert. Was Vernon im Roman erlebt, nämlich mit 50 keine Arbeit mehr zu haben, stellte ich um mich selbst herum fest. Viele meiner Freunde hatten Paris verlassen, andere sich mit dem Internet abgekapselt.

STANDARD: So düster das Buch ist, bringt es einen doch zum Lachen. Je schwärzer, desto komischer?

Despentes: Ich lese viele Bücher und lache dabei gern. Das will ich auch meinen Lesern nicht vorenthalten.

STANDARD: Gehört dazu auch Zynismus? Jean Genet sagte einmal, der Zynismus sei der Weg, die Welt zu sehen, wie sie "wirklich" sei.

Despentes: Die Epoche ist zynisch, doch ich denke nicht, dass ich selbst zynisch bin. Dafür bin ich zu emotionell, zu primär, zu wenig distanziert. Genets Zynismus war auch eine Art von rettender Intelligenz, die vielleicht möglich war, weil er umgekehrt selbst nicht in einer zynischen Zeit lebte.

STANDARD: Nachdem Sie mit 17 vergewaltigt worden waren, schrieben Sie, vermutete ein Kritiker einmal, um sich an den Männern zu rächen.

Despentes: Nein. Ich versuche die Männer zu verstehen, auch was in den Köpfen so vieler Männer vorgeht, die verwirrt sind und rassistische Sprüche von sich geben. Wollte ich mich rächen, würde ich keine Bücher schreiben.

STANDARD: An einer Stelle sagt eine Frau in dem Buch, es sei eine Utopie, mit einem Mann eine gute Beziehung zu haben.

Despentes: Das sage nicht ich! Ich habe gute Beziehungen zu befreundeten Männern, fühle mich von ihnen auch nicht speziell verraten. Alle sind nicht gleich. Zweierbeziehungen zwischen Mann und Frau sind allerdings kompliziert. Ich bin heute lieber mit einer Frau zusammen.

STANDARD: Aus Ihren früheren Erklärungen würde man fast meinen, Sie hätten sich bewusst dafür entschieden, mit 35 lesbisch zu werden. Lässt sich das beschließen?

Despentes: Das nicht. Aber viele Leute entscheiden sich, ihre Homosexualität nicht zu leben, weil sie den gesellschaftlichen Preis dafür nicht zahlen wollen. Ich hatte mich von einer Frau angezogen gefühlt und Lust, diese Geschichte auszuleben. Es war eine sehr positive Erfahrung. Noch heute fühle ich mich weniger unter Druck, sexuell "gut" sein zu müssen.

STANDARD: Denkbar, dass Sie eines Tages wieder hetero werden?

Despentes: (lacht) Durchaus. Ich lebe jetzt – lassen Sie mich rechnen – seit 13 Jahren in lesbischen Beziehungen. Ich sage nicht, dass das immer so sein muss. Aber es ist einfacher; auch die Frage des Alterns ist weniger wichtig.

STANDARD: Wie stehen Sie heute zum Pornomilieu, in dem Sie jahrelang verkehrten?

Despentes: In den 1990er-Jahren war Pornografie in Paris fast ein kulturelles Phänomen, mit Preisverleihungen, den "Hot d'or", und Regisseuren mit eigener Handschrift. Heute ist das durch die Konkurrenz des Internets weitgehend verlorengegangen.

STANDARD: In "Vernon Subutex" schildern Sie hautnah, wie ein Mann Sex mit einer Transsexuellen erlebt. Erstaunlich, wie gut Sie sich in Männer versetzen können!

Despentes: Ich rede mit ihnen darüber. Ich habe das Gefühl, dass viele Männer den Umgang mit Transen schätzen würden, wenn es gesellschaftlich akzeptiert wäre. Könnten alle Leute ihre Sexualität auf diese Art ausleben, gäbe es viel mehr Mischformen, denke ich. Der reine "mec" (Französisch für Kerl) mit einer reinen "meuf" (Frau), das wäre vielleicht gar nicht so häufig. Die Wahrheit ist oft komplexer. Und man ändert sich! Mit 20, 30 oder 50 hat man nicht unbedingt die gleichen sexuellen Bedürfnisse.

STANDARD: Das Thema des Wandels zieht sich durchs Buch – nicht nur im sexuellen Bereich. Eine Christin konvertiert zum Islam, eine dünne Frau setzt Gewicht an ...

Despentes: Ja, diese Prozesse interessieren mich. Man ändert sich, wird älter, es geht bergauf, bergab. Und zwar für den Einzelmenschen wie für die Gesellschaft. Beides versuche ich in Vernon Subutex zu beschreiben.

STANDARD: Häufig unterziehen Sie auch den Körper einer Verwandlung. Stichworte: Tätowierung, Schönheitschirurgie, Anorexie, Geschlechtsumwandlung. Wird der arme Körper in der heutigen Zeit nicht zunehmend strapaziert?

Despentes: Schon – und oft wird auch der Zweck verfehlt. In dieser neuen Besessenheit mit dem Körper ist es mir, als fühlte man sich heute als der Privatbesitzer seines Körperunternehmens. Man kauft Muskeln, Schönheit, Jugend. Ich habe dafür teilweise Verständnis: Der Körper ist schließlich das, worin man steckt; man hat Lust, sich darin wohlzufühlen, ihn den eigenen Bedürfnissen anzupassen. Was ich aber nicht verstehe, sind die 14-Jährigen, die nur noch mit Instagram leben, als wären sie in einer Realityshow. Sie haben eine ganz andere Beziehung zu ihrem Körper. Er wird zu ihrer Pose.

STANDARD: Spricht aus "Vernon Subutex" nicht auch Nostalgie über den Verlust, auch von handfesten Objekten wie etwa Schallplatten?

Despentes: Ja. Ich glaube, die Generation der Fünfzigjährigen kennt diesen Verlust einer ganzen Welt. Internet ist ja ganz lustig, doch es wirft unser Leben über den Haufen. Die Welt, wie wir sie kannten, ist am Verschwinden.

STANDARD: Sie sind vom Punk zum Star geworden. Wie ist das?

Despentes: Es ist sehr angenehm. Was nicht heißt, dass es ewig dauern muss. Die Kritiker sind sehr einheitlich – und wechselhaft!

STANDARD: Sie sind heute Mitglied der Goncourt-Jury, die den wichtigsten Literaturpreis im frankophonen Raum vergibt. Wie würden Sie "Baise-Moi", Ihren Trash-Roman von 1993, heute beurteilen?

Despentes: Ich wäre ziemlich schockiert (lacht). Aber ich fände den Inhalt auch aufrichtig. Ich war damals gerade mal 23 und schwer drauf, wie die Punkmusik jener Zeit. Heute mag ich Rap. Die Rapper lassen hypersexistische Dinge raus. Aber ihre Musik, die sitzt. Die passt in die Zeit.

STANDARD: "Vernon Subutex" ist auch ein Buch über Rockmusik. Was meinen Sie: Welche Band oder welcher Song käme dem Despentes-Sound am nächsten?

Despentes: (überlegt) Das wäre Motörhead. Ich denke auch an Janis Joplin, die sehr beeindruckend war, aber wenn ich mich entscheiden müsste, wäre das Motörhead. Als Begleitmusik unerreicht. Sehr effizient, sehr "wuähh!". (Stefan Brändle, 14.10.2017)