Auf die Frage, ob man im dokumentarischen Kino eher die Realität (Richard Leacock) oder eine Fiktion (Jean Rouch) filmen würde, hat Raymond Depardon, der Magnum-Fotograf und Filmemacher, schwankende Antworten gefunden. Die Spannung zwischen diesen beiden Polen ist in seinem Werk seit langem sichtbar: Dokumentationen stehen neben veristischen Fiktionen (Die Gefangene der Wüste) und persönlichen Essays. Die Sujets sind immer wieder Afrika, die Politik, die Medien und: Justiz und Psychiatrie.

Nur selten verlässt die Kamera in "12 jours" den Anhörungssaal, in dem spätestens nach zwölf Tagen ein Urteil gefällt werden muss.
Foto: Viennale

Sein jüngster Film 12 jours entscheidet sich erst einmal für Distanz: Ganz gemessen gleitet die Kamera minutenlang durch die Korridore des Klinikgebäudes. Nur selten kreuzt ein Patient den Weg. Vor der Tür mit der Aufschrift Salle d'Audience (Anhörungssaal) endet die Fahrt. Hinter dieser Tür wird über Freiheit verhandelt, über Schuldunfähigkeit und Verantwortung, über psychomotorische Delirien, über Fremd- und Eigengefährdung. Spätestens zwölf Tage nachdem in Frankreich die Unterbringung eines Patienten in eine geschlossene, psychiatrische Abteilung gegen seinen Willen verfügt wurde, muss die Maßnahme von einem Richter geprüft werden (ähnlich wie auch in Österreich).

Cine maldito

12 jours dokumentiert diese juristische "Habeas Corpus"-Prozedur, in der die Patienten mit ihren Anwälten dem Richter gegenübertreten – eine Auseinandersetzung mit Sprache, Paragrafen, Gutachten und persönlichem Leid. Es ist Depardons dritter Film über die Psychiatrie. Ein Kreuzungspunkt zwischen seinen Arbeiten über die Justiz und jenen über die Klinik, die in den letzten vier Jahrzehnten entstanden sind.

Ins Geschehen involviert

Am Ende der radikalen Psychiatriereform der 1970er-Jahre, die der italienische Psychiater Franco Basaglia angestoßen hatte, drehten Raymond Depardon und Sophie Ristelhueber in der Klinik von San Clemente in der Lagune von Venedig. Beide hatten hier bereits Fotoreportagen gemacht, packende Serien aus einer Institution, die dem 19. Jahrhundert näher schien als der Moderne. Als San Clemente 1982 in die Kinos kam, erschien der Film wie eine Illustration zu den Schriften über Wahnsinn und Gesellschaft, in denen Michel Foucault die Geburt des modernen Machtbegriffs beschrieb. Von dessen intellektuellem Standpunkt war Depardon lange so weit entfernt, wie vom distanzierten Stil, den man etwa mit den Filmen Frederick Wisemans assoziiert. Denn Depardon und Ristelhueber sind in San Clemente involviert: Ständig werden Kameramann (Depardon) und Tonfrau (Ristelhueber) adressiert, wird das Kino selbst zum Thema, über Kommentare, das TV-Programm im Aufenthaltsraum oder Schlager aus dem Radio.

Ähnlich involviert und involvierend wirkt auch Urgences (1987). Depardon scherzt, dass dieser Dreh im Pariser Hôpital Hôtel-Dieu de facto die Hochzeitsreise mit Claudine Nougaret war, die seine Filme seitdem als Lebenspartnerin, Produzentin, Tonfrau begleitet. Im Film wird, deutlicher als in San Clemente, das Handeln der Institution sichtbar, dokumentiert an der Grenze zur Legalität. Bilder von äußerster Anspannung, Rausch und Depression, aufgefangen von der Empathie des Klinikpersonals.

Flanierender Paranoider

Depardon näherte sich diesen Themen nicht als Intellektueller, sondern als dezentrierter Beobachter, der selbst Schwierigkeiten hat, sich einem Milieu zuzuordnen (den Abschied von und die Wiederentdeckung seiner ländlichen Herkunftswelt hat er in der Filmserie Profils paysans thematisiert).

Der Weg, den seine Psychiatriefilme nehmen, ist auch eine Transformation hin zu immer mehr formaler Klarheit, Ordnung, Distanz. Die totale Immersion von San Clemente, die Ereignisflut von Urgences weichen in 12 jours einem gemessenen, meist statischen Blick, doch Thema der Einschließung ist für Depardon ein persönliches geblieben. Mit Blick auf 12 jours erzählt er in einem Interview, wie er sich selbst mit Spaziergängen im Wald bei Versailles beruhigt. Ein "parano déambulatoire" sei er, ein flanierender Paranoider, der mit seinen Filmen immer wieder erkundet, was ihm selbst die größte Angst macht: die Freiheit zu verlieren. (Robert Weixlbaumer, 20.10.2017)