Foto: Matthias Cremer

Wien – Das Kreuzerl zu Hause machen, die Post den Rest erledigen lassen, dieses Wahlverhalten liegt im Trend: Fast 15 Prozent der gültigen Stimmen von vergangenem Sonntag wurden per Wahlkarte abgegeben. Exakt 889.193 Stück wurden bei der Nationalratswahl ausgestellt – rund 37.000 davon haben die Absender höchstpersönlich in ein Wahllokal außerhalb ihres Wohnortes getragen, der Rest reiste per Post.

Und wie schon bei vergangenen Wahlgängen zeigt sich: Nicht alle wurden gezählt. Sei es durch zu lange Postwege oder andere Schlampereien, wie etwa jene in Vorarlberg: 36 Briefwähler haben hier ihre Stimme in den Briefkasten der Gemeinde Koblach geworfen – und Pech gehabt. Die Gemeinde leitete sie zu spät an die für die Auszählung zuständigen Bezirkswahlbehörde weiter, die Stimmen waren damit ungültig.

Beitrag aus der "ZiB" um 8.30 Uhr.
ORF

Heute, Donnerstag, werden die letzten rund 37.000 Wahlkarten ausgezählt, erst damit steht das Wahlergebnis endgültig fest.

Die Stimme von Hermine K. findet dabei leider keine Berücksichtigung. Am Wahlsonntag befand sich die Wienerin in Australien. Beantragt hat Frau K. ihre Wahlkarte bereits im August. Vier Tage vor der Wahl ist diese dann auch mit einem Begleitbrief vom 16. September bei der Wählerin eingetroffen – leider zu spät, um rechtzeitig wieder an die Behörden in der Heimat retour zu gehen. Frau K. findet das "sehr undemokratisch und bedenklich". Beim Amt reagiert man mit Bedauern – und dem Verweis, dass es zur Lösung des Problems eine Gesetzesänderung bei den Fristen für die Wahlkarten brauchte. Auf "insuffizient tätig werdende Postverwaltungen in anderen Staaten" habe man auch dann leider keinen Einfluss.

Manche Wahlkarten gehen überhaupt spurlos verloren. Etwa jene von Walter T.: Bereits Wochen vor dem Wahltermin korrespondierte er mit der Behörde in der Sache. Um schlussendlich am 15. Oktober eine entnervte Mail loszulassen, in der er ankündigt, er werde sich "jetzt auf den Weg ins Wahllokal machen (Eintreffen ca. 11 Uhr)", um die Sache noch einmal persönlich mit dem Wahlleiter zu besprechen – ohne Erfolg.

Richtige Karte, falsche Person

Margarethe W.s Wahlkarte hat ein anderes Schicksal ereilt: Sie wurde fälschlicherweise von jemand anderem beim Postamt abgeholt und ausgefüllt. Für Frau W. war damit die Stimmabgabe bereits vor dem 15. Oktober wieder erledigt: Duplikate werden zwecks Missbrauchverhinderung nicht ausgestellt. Wenn die Wahlkarte aber erst einmal bestellt ist, gibt es kein Zurück mehr: Jetzt muss mit ihr gewählt werden.

Experten haben bereits vor der Einführung der Briefwahl im Jahr 2007 vor deren Tücken gewarnt. Nicht nur sei der Schutz des geheimen Wahlrechts damit nicht mehr ausreichend gewährleistet, auch Manipulationen seien bei der Wahl auf dem Postweg leichter möglich.

Verfassungsjurist Theo Öhlinger bleibt auch heute dabei: "Die Briefwahl ist ein Problem. Aber sie lässt sich nicht mehr rückgängig machen", sagt er zum STANDARD. Auch Kollege Heinz Mayer von der Uni Wien ist überzeugt: "Die Briefwahl ist immer missbrauchsanfällig. Aber damit muss man jetzt leben." Die Forderung nach Abschaffung der Briefwahl wäre politisch zu unpopulär.

Was also tun, wenn ich mich um mein Wahlrecht betrogen fühle? Einzelpersonen können keine Wahlanfechtungen einbringen, eine solche müsste von einer der wahlwerbenden Parteien erfolgen. Könnten die Grünen diese Möglichkeit anpeilen? "Ich sehe wenig Raum für eine Anfechtung. Dafür müsste eine derart große Anzahl betroffen sein, dass ein Mandatswechsel möglich wäre. Dass dies hier der Fall ist, erscheint mir unwahrscheinlich", sagt Daniel Ennöckl vom Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien. In absoluten Zahlen fehlen den Grünen nämlich rund 13.000 Stimmen für den Einzug ins Parlament.

Anders als Öhlinger und Mayer sieht Ennöckl "keinen großen Reformbedarf" beim Briefwahlsystem, denn: "Wenn bei mehr als 800.000 Wahlkarten einzelne auf dem Postweg verlorengehen, erkenne ich kein strukturelles Problem. Diese Wahlform wird stark angenommen, das belegt ja auch, dass sie grundsätzlich funktioniert", erklärt Ennöckl dem STANDARD.

Amona P. ist anderer Ansicht. Sie hat ihre rechtzeitig beantragte Wahlkarte nie erhalten. Weil man ihr auch bei Post und Amt nicht weiterhelfen konnte, entwickelte die 23-Jährige, verärgerte Möchte-Gern-Wählerin "diverse Verschwörungstheorien": "Hat denn die zustellende Person – nennen wir sie Rudi – etwa die Sticker auf meiner Wohnungstür gesehen?" Zu lesen sei dort: "Keine Werbung der FPÖ" und "Wenn schon Ehe, dann für Alle". Frau P. erklärt in ihrem Leserbrief: "Gäbe es die Möglichkeit, einen Antrag auf Neuwahlen zu veranlassen, würde ich ihn heute stellen."

Theorie der Anfechtung

Weil das nicht geht, ist nach Stand heute, Donnerstag, mit einer Wahlanfechtung nicht zu rechnen, obwohl die Urteilsbegründung des Verfassungsgerichtshofes bei der Aufhebung der Bundespräsidentschaftswahl die Tür dafür ein Stück weiter aufgemacht hat. Sinngemäß argumentierten die Höchstrichter im Herbst 2016, dass die theoretische Möglichkeit zur Manipulation für eine Wahlwiederholung ausreiche. "Wenn man solche Kriterien formuliert, darf man sich nicht wundern, wenn künftige Wahlen infrage gestellt werden", findet Verfassungsrechtler Öhlinger. Denn theoretische Möglichkeiten ließen sich immer finden.

Wer bei künftigen Wahlgängen auf Nummer sicher gehen möchte, kann die Wahlkarte übrigens auch persönlich bei der Behörde abholen, gleich ausfüllen und direkt dort wieder abgeben. (Peter Mayr, Karin Riss, 19.10.2017)