Der EU-Vorschlag eines ständigen Schiedsgerichtshofs löst kein Problem.

Illustration: Davor Markovic

Erstes Semester, erste Vorlesung, die Studenten drängen sich: Einführung in die Rechtswissenschaften. Dann bekommen sie zu hören: Es gibt materielles Recht – dort finden sich Rechtsnormen über den Inhalt von Rechten.

Und es gibt formelles Recht, das Verfahrensrecht. Dort wird geregelt, wie man sein materielles Recht durchsetzen kann – in der Regel vor einem Gericht, oder auch vor einem Schiedsgericht, falls die Parteien dies vereinbaren. Beide Verfahren sind im Gesetz – in Österreich in der Zivilprozessordnung – geregelt.

Um die Unterscheidung von materiellem und formellem Recht zu kennen, muss man nicht in dieser Vorlesung gewesen sein. Politiker, die ja Gesetze – materielle und formelle – im Parlament beschließen, kennen gewiss den Unterschied. Trotzdem wird diese prinzipielle Unterscheidung in der Debatte um den Investitionsschutz in modernen Freihandelsabkommen wie Ceta oder TTIP völlig ignoriert und die Öffentlichkeit vorsätzlich getäuscht.

Investitionsschutz

Die vorgelagerte Frage lautet: Welches Recht hat der Investor? Nur wenn er ein Recht hat, kann er klagen. Erst dann stellt sich die Frage der Durchsetzung. Gleichzeitig ist ein Recht ohne Durchsetzungsmöglichkeit das Papier nicht wert, auf dem es niedergeschrieben wurde.

Für den Fall des Investorenschutzes muss daher zunächst gefragt werden: Wollen wir Investoren einen bestimmten Schutz einräumen? Nur wenn wir diesen gewähren, können Investoren klagen.

Hat aber der Staat dem Investor den Schutz einmal gewährt, muss er ihm auch eine Möglichkeit der Durchsetzung geben, sonst stünde der Investor so da, als ob er gar keinen Schutz hätte. Derzeit erfolgt diese Durchsetzung vor Schiedsgerichten. Gegen diese laufen nun bereits seit Jahren NGOs und Politiker Sturm. Die EU-Kommission greift nun mit der Idee eines multilateralen Investitionsgerichtshofes mit ständigen Berufsrichtern ein. Dieser soll die in Verruf geratenen Schiedsgerichte ablösen.

Es geht um das materielle Recht

Doch kann das Projekt überhaupt die Gemüter beruhigen? Die Antwort ist klar: nein. Selbst die Studenten der ersten Vorlesung wissen: Wollte man die Rechte der Investoren tatsächlich einschränken, müsste man woanders ansetzen, nämlich beim materiellen Recht.

Doch dazu fehlt den Politikern der Mut – schließlich macht es keinen schlanken Fuß, wenn man ausländischen Geschäftspartnern banale Zusagen verweigert: dass man ihre Investitionen fair und gerecht behandelt, sie nicht diskriminieren wird oder ihre Investition nicht enteignen wird. Es ist einfacher, gegen die Schiedsgerichtsbarkeit zu wettern: Man beruhigt die von NGOs aufgestachelte Öffentlichkeit und verschreckt dabei keine Investoren.

Eine Bestätigung, wie wertvoll der Investorenschutz ist, kam jetzt von unerwarteter Seite. Während ihn die EU-Kommission innerhalb der Union für überflüssig hält, hat erst vor einem Monat der Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof eine Lanze für ihn gebrochen: Investitionsschutzabkommen zwischen EU-Mitgliedstaaten (sogenannte "Intra-EU-BITs") bieten demnach einen Mehrwert und verstoßen nicht gegen EU-Recht.

Spektakulärer Rückschlag

Tatsächlich sind Mitgliedstaaten – mit Ausnahme von Italien – nur sporadisch der Anweisung der Kommission gefolgt, alle Intra-EU-BITs aufzukündigen. Folgt der EuGH wie in den meisten Fällen der Meinung des Generalanwalts, wird die Kommission wohl auch alle Vertragsverletzungsverfahren – unter anderem gegen Österreich – einstellen müssen.

Berichtet wurde von diesem spektakulären Rückschlag für die EU-Kommission in den Medien kaum. Beim Investitionsschutz gilt anscheinend seit langem die Maxime: "the bad, the ugly, the news". Zu befürchten ist, dass nun die Schiedsgerichtsbarkeit als Ablenkungsmanöver erst recht wird herhalten müssen.

Die Kräfte der EU werden sich jetzt noch mehr auf das Verfahrensrecht und das Projekt "multilateraler Investitionsgerichtshof" konzentrieren. Die Öffentlichkeit stellt sich die kritische Frage, warum Investoren überhaupt einen besonderen Schutz genießen sollen.

Doch anstatt einen offenen Dialog mit allen Beteiligten zu führen, verstrickt sich die EU-Kommission in die Scheinlösung "multilateraler Investitionsgerichtshof", um vom eigentlichen Thema abzulenken und sich Verhandlungsspielraum im Freihandel zu erkaufen.

Transparenzregeln

Die derzeitige Investitionsschiedsgerichtsbarkeit hat ohne Zweifel viele Mängel: Investoren beklagen zu Recht, dass die Verfahren zu lange dauern und zu viel kosten. Dadurch wird vor allem kleinen und mittleren Unternehmen der Weg zu ihrem Recht versperrt. Ein Verfahren mit voller Berufungsmöglichkeit vor einem künftigen Investitionsgerichtshof wird jedoch die Kosten nicht senken.

Selbstverständlich hat der Steuerzahler auch das Recht, über die Verfehlungen seines Staates zu erfahren, was das derzeitige Regelwerk nicht gewährleistet. Abhilfe schaffen die nach jahrelanger Arbeit und mit Konsens der Staatengemeinschaft geschaffenen Transparenzregeln der United Nations Commission on International Trade Law (Uncitral).

Sie gewährleisten die Offenlegung von sämtlichen Schriftsätzen, den öffentlichen Zugang zu Dokumenten und öffentliche Verhandlungen. Sie zu implementieren, verlangt ausschließlich politischen Willen. Diesen gibt es zumindest beim Abschluss von modernen Freihandelsabkommen mit Investitionsschutz, bei welchem Transparenzregeln fester Bestandteil sind. Mehr Transparenz wird auch ein ständiger Gerichtshof nicht bieten können.

Vollstreckung als Achillesferse

Wir stehen erst am Anfang des Projekts "multilateraler Investitionsgerichtshof", doch ein wesentliches Problem zeichnet sich bereits jetzt ab: die Vollstreckung seiner Urteile. Derzeit werden die meisten Schiedssprüche nach der ICSID-Konvention von 1966 vollstreckt.

Über 160 Staaten verpflichten sich darin mittlerweile, Schiedssprüche wie Urteile der eigenen Höchstgerichte umzusetzen. Das bedeutet: Kommt ein unterlegener Staat seiner Schadenersatzpflicht nicht nach, kann der erfolgreiche Kläger quer über den Globus auf dessen Vermögen zugreifen. Erst dieses Drohpotenzial führt dazu, dass Schiedsurteilen auch tatsächlich Folge geleistet wird.

Angesichts der heute herrschenden geopolitischen Umstände ist es undenkbar, für die Urteilsexekution einer neuen Schiedsinstanz wieder so einen breiten Konsens zu erzielen. Deshalb plant die EU-Kommission, Urteile des ständigen Investitionsgerichtshofs als ICSID-Schiedssprüche zu deklarieren. Ob dieses Vorhaben nach der ICSID-Konvention möglich ist, ist höchst umstritten.

Nur weil man "ICSID-Schiedsspruch" auf ein Urteil eines über 50 Jahre später errichteten ständigen Gerichtshofs draufschreibt, ist noch lange kein Schiedsspruch im Sinne der ICSID-Konvention drinnen – und nur für letztere haben sich Staaten zu einer Vollstreckung verpflichtet.

Die EU-Kommission sollte zunächst die Grundsatzfrage diskutieren, wie weit man in Zukunft ausländischen Investoren überhaupt zusätzlichen Schutz gewähren möchte. Bis dahin sind verfahrensrechtliche Reparaturen zwar sinnvoll, von komplexen Sonderkonstruktionen sollte aber abgesehen werden: Denn sie bringen aus heutiger Sicht wenig Veränderung, aber stattdessen viele neue Probleme und rechtliche Unsicherheit mit sich – in Zeiten, wo ohnehin nichts sicher scheint. (Filip Boras, Wirtschaft & Recht Journal, 23.10.2017)