"Am Land erwarte ich mir Ruhe und Pferde": Wohnhaus und Architekturbüro im Odenwald.

Foto: Kristof Lemp

"Mit dem Ausverkauf des Landes geht die letzte Wertschätzung verloren": Kerstin Schultz.

Foto: Petra Mühlmann

Gerade ging in Osttirol die sechste Österreichische Leerstandskonferenz zu Ende. Die deutsche Architektin Kerstin Schultz über Pferde, Ideen zur Nachnutzung und den Begriff der Landerwartungshaltung.

STANDARD: Sie treten selbstbewusst auf und sagen in Ihren Vorträgen stets: "Ja, ich bin sowohl Architektin als auch Landbewohnerin. Ich lebe in der Odenwaldhölle." Was macht den Odenwald zur Hölle?

Schultz: Den Begriff Odenwaldhölle hat die FAZ-Journalistin Antonia Baum geprägt. Sie hat einen Artikel über den Odenwald geschrieben und damit sowohl einen Shitstorm als auch eine Solidarisierungswelle mit der Region ausgelöst. Die Odenwaldhölle ist eine Anspielung auf unser aller Klischeebild vom Land – auf die geistige Verarmung ländlicher Regionen, auf die zum Teil kulturelle Verwahrlosung und auf die herrschende Bautentristesse abseits der Boomregionen.

STANDARD: Wie viel ist wahr?

Schultz: Einiges, aber nicht alles. Ich bin Optimistin, sonst wäre ich nie aufs Land hinausgezogen. Wir haben früher in Darmstadt gelebt, in einer Architektur- und Kulturhochburg, mitten in einem relativ homogenen Stadtviertel mit Menschen mit ähnlicher Ausbildung, ähnlichem Konsumverhalten und sehr ähnlichen Wertvorstellungen. Fakt ist: Die schönsten Ecken in den Städten sind von Menschen besetzt, die sich das auch leisten können. Hier im Odenwald ist alles anders. Ich lebe in einem Dorf mit 300 Einwohnern, und beim Bäcker unterhalte ich mich über das Wetter und das tägliche Leben – und nicht über meinen Beruf. Das tut gut. Es ist ein Leben mit räumlichen und geistigen Freiräumen. Und mit Kühen und Pferden, die dann plötzlich im eigenen Garten stehen und einen fragend ansehen, was man da tut.

STANDARD: Beim Vortrag der Leerstandskonferenz meinten Sie, das Land sei heute in einer Identitätskrise. Was heißt das?

Schultz: Wir erleben heute zwei sehr interessante, einander bedingende Phänomene, erstens die Urbanisierung des Landes und zweitens die Verdörflichung der Stadt. Während wir am Land jeden Leerstand mit Galerien, Yoga-Studios und Coworking-Spaces füllen wollen, beobachte ich, wie die Menschen in der Stadt immer gesünder und immer ländlicher leben und sogar damit anfangen, neben der Straße Gurken und Tomaten anzubauen. Damit verändert sich unser komplettes Verständnis von Stadt und Land.

STANDARD: Gut oder schlecht?

Schultz: Sehr gut sogar! Jeder Impuls, jede Konfrontation und jede ungewöhnliche Herangehensweise – und sei sie auf Dauer noch so unwahrscheinlich und unrealistisch wie die Implementierung eines schicken Fitnesscenters in einen leerstehenden Bauernhof – ist ein Versuch, unsere Köpfe aufzumachen und unsere gewohnten Denkmuster aufzubrechen. Aber wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass sich mit dem Wandel des Stadt- und Landbildes und mit dem Selbstverständnis, dass man an allen Orten auf der Welt alles kriegt, auch die Erwartungshaltung ändert. Das haben viele noch nicht begriffen.

STANDARD: Sie haben den Begriff Landerwartungshaltung geprägt. Was bedeutet der?

Schultz: Wenn ich heute aufs Land rausfahre, erwarte ich mir Ruhe, Pferde und Kühe, Kartoffelbauern und die Möglichkeit, Äpfel zu klauen und jeder Zeit gegen den Zaun pinkeln zu dürfen. Iggy Pop macht das auch. In einem Interview hat er mal gesagt, dass er jeden Morgen barfuß rausgeht und in die Natur pinkelt. Das ist unsere Landerwartungshaltung.

STANDARD: Wird das Land dieser Erwartungshaltung noch gerecht?

Schultz: Nein. Man muss heute schon gezielt nach spezifischen Orten und Höfen suchen, um diese alten Qualitäten noch zu finden. Die Realität sieht anders aus.

STANDARD: Und zwar?

Schultz: Erstens befindet sich das Land – wie schon erwähnt – in einer zunehmenden Verstädterung. Zweitens ist in den letzten Jahrzehnten viel Wissen verloren gegangen, denn die heutige Landgeneration weiß heute kaum noch, wie man Kühe melkt, Quitten einkocht und einen Wald bewirtschaftet. Und drittens hat sich die Landschaft dramatisch verändert. Was früher die Kornkammer war, ist heute oft nur eine Geld- und Energiemaschine. Wenn Sie durch Norddeutschland fahren, werden Sie sehen, dass es fast nur noch Windbauern, Solarbauern, Maisbauern und Biogasbauern gibt. Einen Kartoffelbauern werden Sie vergeblich suchen. Das sind Strukturen, die es braucht, keine Frage. Aber nicht in diesen Ausmaßen und Monokulturen! Diese Gigantomanie lehne ich ab.

STANDARD: Das klingt dramatisch.

Schultz: Das ist es auch. Die Stadt hat gelernt, das Land hat verlernt.

STANDARD: Aufgrund des demografischen Wandels und der zunehmenden Verstädterung wird das Land mehr und mehr ausgedünnt. Die Folge ist Leerstand. Schrumpfende Regionen wie der Odenwald sind betroffen. Was tun?

Schultz: Wenn wir am Land von Leerstand sprechen, dann sind dies entweder Gebäude, die heute keine Funktion mehr haben – wie leerstehende Bauernhöfe, Landwirtschaftsbetriebe oder Bahnhöfe entlang aufgelassener Strecken. Oder aber Bauwerke mitten im Ortskern, die zwar am Land sind, aber im Charakter etwas Städtisches haben – ohne Grünland und ohne Freiraumbezüge. Beide Formen des Leerstandes sind schwierig zu managen. So wie es Leerstandsmanager in der Stadt gibt, würde es meines Erachtens auch entsprechende Manager am Land brauchen. Das fehlt komplett.

STANDARD: Welche Nutzungen schlagen Sie vor?

Schultz: In Luckenwalde im ehemaligen Ostdeutschland wurde ein ehemaliger Bahnhof in eine Bücherei umgebaut. Im Odenwald haben wir viele gastronomische und touristische Betriebe. Das geht immer. Vor allem aber träume ich von verschiedenen Formen des Miteinanderlebens – beispielsweise von klassischen Wohngemeinschaften, aber auch von Jugend- und Senioren-WGs, die das Thema der Vereinsamung, des Wegsterbens und des kulturellen Verödens aktiv und kreativ in die Hand nehmen. Dieses Wohnangebot fehlt am Land komplett.

STANDARD: Schrumpfende Gemeinden in Deutschland gehen mittlerweile dazu über, Bauland zu verschenken. Ist das eine Lösung?

Schultz: Das ist eine sehr kurzfristig gedachte Strategie, um Neubürger anzuziehen. Ich lehne das total ab. Es muss den Menschen etwas wert sein, aufs Land zu ziehen. Immerhin sprechen wir hier von Qualitäten. Mit dem Verschenken von Grund und Boden und mit dem Verkauf zu Dumpingpreisen geht das letzte Fünkchen Wertschätzung verloren. Es ist die Aufgabe von uns Architektinnen, Stadtplanern und Raumplanern, aber auch von Investoren, Betreibern und Vermietern, auf diese Qualitäten aufmerksam zu machen und sie nicht zu verschenken. Meine Forderung lautet: Kein Bauen ohne Prozess! Sowohl die Spekulation als auch der Ausverkauf in dörflichen Strukturen gehören dringend verboten!

STANDARD: Wie lautet Ihre Vision vom Land?

Schultz: Meine Vision wäre, Landschaft und räumliche Freiheit zu einem Alleinstellungsmerkmal und Entscheidungskriterium auszubauen. Derzeit sind wir am besten Weg, das Gegenteil zu erreichen. Da reicht nur ein Blick auf die Baulandbevorratung, Bodenversiegelung und Zunahme von großstrukturellen Betrieben. Das ist der Weg in die Hölle – und zwar nicht nur im FAZ-Jargon.

STANDARD: Was kommt nach der Hölle?

Schultz: Nach der Hölle geht's bergauf. (22.10.2017)