Übrig bleiben: Auch das Leben mit einem unheilbar kranken Kind wird Realität. Sich zu verabschieden ist ein langsamer Prozess, bei dem das Kinderhospiz Netz Familien begleitet. Einfühlsam, unterstützend und ohne Hektik. Bis zum letzten Tag und über den Tod hinaus.

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Sabine Reisinger hat schon viel gesehen. Für ihren Beruf ist sie oft unterwegs. Sie besucht Familien zu Hause. Es sind keine gewöhnlichen Familien, sondern solche, in denen ein Kind mit einer lebensbegrenzenden Erkrankung lebt. Lebensbegrenzend ist ein anderes Wort dafür, dass es keine Heilung mehr gibt, ein Kind also sterben wird.

Was sich sehr traurig anhört, sieht nicht immer so aus. Sabine Reisinger erzählt von Anja (Name von der Redaktion geändert, Anm.): "Jedes Mal, wenn das Mädchen voller Energie und Lebenswillen hereingestürmt kommt, denke ich mir: Wir begleiten hier das Leben und nicht den Tod." Als Obfrau leitet Reisinger das Kinderhospiz Netz, Anja ist nur einer ihrer Schützlinge. Nach zwei Jahren im Wiener AKH ist sie nun zu Hause, muss aber über die Venen künstlich ernährt werden.

Insgesamt leben in Österreich 5.000 Kinder, die lebensbegrenzend erkrankt sind. 40 Familien betreut der Verein aktuell in Wien und Niederösterreich. Der Großteil der Kinder leidet an Stoffwechsel- oder schweren Herzerkrankungen, einige haben unheilbare neurodegenerative Leiden.

Eine schwierige Situation für die Familien. Viele bewältigen diese Zeit ohne Hilfe, oft auch deshalb, weil sie das Kinderhospiz Netz nicht kennen. "Wir betreuen derzeit eine Familie, die schon zwei Kinder durch dieselbe Krankheit verloren hat und in der nun auch das dritte Kind daran erkrankt ist. Die Mutter hat mir einmal gesagt, dass sie sehr froh gewesen wäre, hätte sie von unserer Unterstützung schon bei der Erkrankung ihrer beiden ersten Kinder gewusst", erzählt Reisinger von einem tragischen Schicksal.

Sich eingestehen

Vielen Eltern, weiß sie, fällt es auch schwer, sich an den Verein zu wenden, "denn es bedeutet, sich einzugestehen, dass man ein Hospiz braucht", sagt Gudrun Madl, Leiterin des Palliativteams.

In den meisten Fällen werden die Familien zu Hause betreut. "Es geht darum, größtmögliches Wohlbefinden für die kranken Kinder und ihre Familien zu ermöglichen", sagt Madl. Das heißt vor allem, die Symptome der kranken Kinder zu lindern. Manche haben Atemprobleme oder Schmerzen, andere müssen, wie Anja, künstlich ernährt werden. Das können die Eltern oft nicht selbst. Deshalb schickt der Verein Mediziner zu den Familien nach Hause. Sie legen Zugänge, setzen Magensonden oder verabreichen Medikamente. So werden den Kindern stationäre Aufenthalte erspart, die Eltern können mit den Ärzten zu Hause sprechen, sich in medizinischen Entscheidungen Unterstützung holen.

Der Verein fängt Familien auch dort auf, wo andere Angebote enden. "Etwa wenn Eltern abends oder am Wochenende etwas mit Freunden unternehmen wollen, sind wir da", sagt Madl und betont, dass "diese Familien oft gar nicht mehr rausgehen, sie haben wenig soziale Kontakte".

Viele kleine Wege

Die Familienbetreuung erfordert viel Einsatz, der ohne die 50 geschulten ehrenamtlichen Helfer gar nicht möglich wäre. Sie übernehmen alltägliche Aufgaben, die die Familien aus Zeit- oder Energiegründen nicht schaffen, etwa Geschwister zum Musikunterricht bringen und wieder abholen. "Glücklicherweise haben wir auch junge Freiwillige. Sie verbringen Zeit mit unseren erkrankten Jugendlichen, die oft nicht in die Schule gehen können und so von Gleichaltrigen komplett isoliert leben", sagt Reisinger. Durch diese Maßnahmen wird der Alltag für die Familien aufrechterhalten. "Wir begleiten sie bis in den Tod, bis dahin vergehen aber oft viele Jahre."

Familie, das sind auch die Geschwisterkinder. "Sie stehen oft im Schatten, weil sich alles um das kranke Kind dreht, und empfinden häufig Schuldgefühle", so Reisinger. Für sie gibt es die vom Verein organisierte Geschwistergruppe. Bei den regelmäßigen Treffen sollen sie Spaß haben, zur Abwechslung mal selbst im Mittelpunkt stehen. "Sie haben denselben Hintergrund, das verbindet", erzählt Reisinger. Man unternimmt gemeinsame Ausflüge, bastelt oder spielt.

Dabei geht es auch darum, Vertrauen aufzubauen, sagt Reisinger, die immer wieder überrascht davon ist, was die Geschwisterkinder bewegt. Sie erinnert sich an einen Buben, der meinte: "Wenn der liebe Gott das zulässt, was mit meiner Schwester passiert, kann ich nicht mehr an ihn glauben." Nur wenn die Geschwisterkinder sich bei diesen Treffen wohl und verstanden fühlen, teilen sie solche Sorgen und Ängste. "Nur durch Vertrauen können wir unterstützen", so Reisinger.

Normalität schaffen

Muss ein krankes Kind ins Spital, wird es auch dort weiter besucht. Das entlastet die Eltern, die dann ständig zwischen dem Krankenhaus und daheim hin- und herpendeln müssen.

Neben der Betreuung zu Hause und im Spital gibt es seit 2016 im zwölften Bezirk auch das Tageshospiz. Auch hier geht es um Normalität. Der Raum ist mit bunten Möbeln eingerichtet, an den Wänden hängen Zeichnungen, überall liegen Spielsachen. Es wird gemalt, vorgelesen. Nur hinter einer Trennwand sieht es anders aus als in einem herkömmlichen Kindergarten. Hier steht all das bereit, was schwerkranke Kinder brauchen könnten. Ein Krankenbett zum Beispiel, Sauerstoff oder auch Absauggeräte, weil die Kinder oft Atemprobleme haben. Während die Kinder im Tageszentrum sind, können die Familien Wege erledigen und das gute Gefühl haben, dass diplomierte Pflegepersonen, ehrenamtliche Mitarbeiter und Therapeuten gut für die kranken Kinder sorgen.

Darüber reden

Während Erwachsene im Durchschnitt etwa 18 Tage in einem Hospiz verbringen, bis sie sterben, werden Kinder mit lebensbegrenzenden Erkrankungen teils über Jahre betreut. "Wir steigen wesentlich früher in die Begleitung ein, manchmal auch direkt nach der Diagnosestellung", sagt Madl. Die betroffenen Kinder erreichen oft das junge Erwachsenenalter. Und dennoch: Irgendwann kommt dann der traurigste aller Tage für die Eltern. Pro Jahr sterben ein bis zwei Kinder der vom Kinderhospiz Netz betreuten Familien.

Es ist der schwierigste Teil eines langen Weges. Wenn lebensbedrohliche Situationen häufiger werden, versucht das Team, diesen Umstand mit den Eltern zu thematisieren, über so wichtige Fragen wie Reanimation oder die Verlegung auf die Intensivstation zu sprechen. "Eltern fällt es schwer, über das Lebensende ihres Kindes nachzudenken. Wir begleiten den Prozess, führen die Eltern dahin, ihrem Kind zu erlauben, gehen zu dürfen. Das ist auch für uns jedes Mal eine große Aufgabe", erzählt Madl.

Vorbereitet sein

Zu Hause sein, in vertrauter Umgebung, Eltern und Geschwister in der Nähe: Die Experten im Verein wissen, wie wichtig das für sterbende Kinder und ihre Angehörigen ist. Und genau das versucht man dann auch möglich zu machen. Bis zum letzten Atemzug steht das Team dann an der Seite der Familie. "Unsere Familien wissen, dass sie sich auf uns verlassen können." In Ruhe gehen können: Das ist das Ziel, das der Verein all seinen Kindern und Jugendlichen ermöglichen will. Wie wichtig das ist, weiß Gudrun Madl aus ihrer früheren Arbeit auf einer Intensivstation: "Ich habe oft erlebt, dass Kinder bis zur letzten Minute therapiert wurden, obwohl schon klar war, dass sie im Sterben liegen. Dabei ist es in so einer Situation wichtig, dass die Familien sich ohne Hektik noch verabschieden können."

Die Betreuung des Kinderhospizes Netz geht für die Familien auch über den Tod des Kindes hinaus. Man trauert gemeinsam, organisiert das Leben neu. "Oft fällt nach dem Tod des Kindes die finanzielle Unterstützung weg, Eltern haben aufgrund der aufwendigen Pflege oft jahrelang nicht mehr gearbeitet, können oder müssen ihre barrierefreie Wohnung aufgeben", erzählt Reisinger, die dann beratend zur Seite steht.

Was ihr Mut und Kraft für diese schwierige Arbeit gibt? "Die Kinder, sie haben unglaubliche Reserven." Das bewundert sie bei jedem ihrer Besuche aufs Neue. (Bernadette Redl, 21.10.2017)