Gent – Den Belgiern sei Gerhard Richter wohl nicht so geheuer, so S.M.A.K.-Chef Philippe van Cauteren spaßend. Kunst mit Wiedererkennungswert sei ihnen einfach lieber. Klar, Richters schwarz-weiße Malereien der 1960er- bis 80er-Jahre, die wie verwackelte Schnappschüsse aussehen, haben diesen "Kenne ich"-Effekt. Aber es sind eben nicht diese zu Ikonen gewordenen fotorealistischen Leinwände mit dem gewissen Unschärfeeffekt – wie Kerze (1982), Schädel (1983) oder das mit Duchamps Treppenakt kokettierende Ema, Akt auf einer Treppe (1966) -, die nun im Stedelijk Museum voor Actuele Kunst in Gent zu sehen sind.

Gerhard Richter: "Torso" (1997), Privatsammlung

Es ist die erste große Museumsschau Richters in Belgien seit 41 Jahren. Und so wollte man den wohl berühmtesten Maler der Gegenwart und – je nach Ranking – auch immer wieder teuersten unter den lebenden Zeitgenossen nicht mit diesen scheinbar typischen Werken präsentieren, obendrein nicht mit solchen, mit denen Richter 1976 im Palais des Beaux-Arts in Brüssel vorstellig wurde.

About Painting (kuratiert von Martin Germann) zeigt auf gewisse Weise einen Überblick über den ganzen Richter, genauer: über den ganzen abstrakten Richter. Und zwar als sportlichen Sprint von 1964 bis zur frischesten, geradewegs dem Atelier entsprungenen Leinwandware, die nicht nur für Belgier einigermaßen überraschend ist. Aber dazu später.

Installation "4 Glasscheiben" (1967) im S.M.A.K. 2017, aus der Sammlung der Herbert Foundation, Foto: Dirk Pauwels

Das guckfaule Gewohnheitstier gerät gleich zu Beginn der Schau ins Stolpern, sein Vorwärtsdrang wird ausgebremst: Vier rechteckige, gerahmte Glastafeln spannen sich hier zwischen Boden und Decke auf, blockieren, schräg gekippt wie Fensterflügel, den Blick auf klassische Tafelbilder, sorgen für Spiegelungen und hoffentlich auch für gedankliche Reflexionen. Malerei wird in 4 Glasscheiben (1967) dreidimensional und zeigt, dass Richters Annäherung an das Medium eine konzeptuelle, ja analytische ist.

Antipoden überwunden

Freilich, die Abstraktion steht auch hier nicht alleine. Denn in Richters Werk gab es nie nur Abstraktion, nie nur Gegenständliches. Vielmehr überwand er die Antipoden, machte aus ihnen ein stetes Nebeneinander. "Realismus ist ein weiter Begriff. Man kann ja auch zur abstrakten Malerei sagen, dass sie eine Realität hat. Die Realität der Bilder", sagte Richter einmal.

Gerhard Richter: "Umgeschlagenes Blatt" (1965), Museum Kurhaus Kleve © Gerhard Richter 2017

Etwas anderes als ein Nebeneinander von abstrakt und gegenständlich wäre für einen Künstler, der es wie kein anderer versteht, die Malerei selbst zum Thema zu machen, nicht denkbar: Fragen und Selbstzweifel, Illusionismus und Wahrhaftigkeit, Gestus und so weiter. Motive der Leinwand, des Rahmens, des Fensters, des Spiegels und des von seinem Malheroen Vermeer inspirierten Vorhangs tauchen immer wieder auf.

Gerhard Richter: "Fenstergitter" (1968), Ludwig Museum Museum of Contemporary Art, Budapest credit: Gerhard Richter, photo Jozsef Rosta/Ludwig Museum – MoCA Budapest
Gerhard Richter: "1025 Farben" (1974), Privatsammlung

Ebenso das Experimentieren mit Farbfeldern oder Kippeffekte wie bei den sich sanft entweder gegen den Raum oder gegen die Wand neigenden Tafeln Zwei Grau (1998/2016). Und wenn er in zwei Arbeiten den Ausblick aus seinem alten und seinem neuen Atelier zeigt, der unterschiedlicher nicht sein könnte, so geht es irgendwie auch um die Bedeutung der Kontexte, in denen produziert wird.

Nachvollziehbar wird das alles im ebenso erfrischenden wie erhellenden Schnellabriss, der in seiner Essenz den Appetit am Schauen anregt: auf Techniken, Texturen, Dynamiken.

Ausschnitt aus einem großformatigen digitalen Streifenprint Gerhard Richters: "Strip" (2013/2016).
Foto: Privatsammlung, S.M.A.K., Gent

Bei der Serie der gigantischen, zehn Meter breiten Streifenbilder (Strip, 2013), die mittels Software die Vorlage so lange teilten, bis 8192 Streifen übrigblieben, war es das Unmenschliche der Bilder, das Richter interessierte. Er thematisiert dieses In-die-Knie-Gehen der Malerei vor dem Digitalen. Die Bilder, die er dem abringt sind betörend und irgendwie hypnotisierend und in Gent nimmt sich daher fast jeder Besucher – zumindest ein Stück davon – aufs Smartphone gebannt mit nach Hause. Die Gesellschaft antwortet auf die zunehmende Automatisierung mit der Betonung des Handwerks. Und so wundern die jüngsten, höchst vitalen Bilder des 85-jährigen Richters dann auch weniger stark: extrem pastose, gestische Farbexplosionen. (Anne Katrin Feßler aus Gent, 1.11.2017)

Gestische Farbexplosion: "Abstraktes Bild" (2017)
Privatsammlung