Von Gillian Wearing geehrt: Suffragistin Millicent Fawcett.

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In Kunstkreisen ist Gillian Wearing bekannt und geachtet. Als eine der berühmten "Young British Artists" gehört sie seit den 90er-Jahren zu jenen Konzeptkünstlern wie Damian Hirst oder Tracey Emin, die Preise und prestigeträchtige Aufträge auf der Insel unter sich ausmachen. Bereits vor 20 Jahren erhielt sie den Turner-Preis, die wichtigste Kunstauszeichnung des Landes.

Größere Aufmerksamkeit erhielt die 53-Jährige zuletzt mit einer Skulptur in Birmingham. Da wurde vor der neugebauten Bibliothek Eine echte Birminghamer Familie enthüllt: zwei Schwestern, die eine schwanger, beide alleinerziehend, mit ihren beiden Söhnen. Eine Provokation für all jene, die dem Ideal einer bürgerlichen Familie anhängen. Dabei sei diese in der heutigen Zeit eben nur ein Teil der Realität, findet Wearing: "Die Vorstellung davon, was eine Familie darstellt, sollte nicht festgelegt sein."

Nun wird die in London lebende Künstlerin wieder im öffentlichen Raum aktiv, und zwar in einem besonders aufgeladenen: Der Parliament Square vor dem Parlamentsgebäude von Westminster repräsentiert so etwas wie die gute Stube der Demokratie. Umtost vom Verkehr stehen hier elf Herren auf Podesten, von längst vergessenen Premierministern des 19. Jahrhunderts über US-Präsident Abraham Lincoln bis hin zu Kriegspremier Winston Churchill. Der vorläufig letzte Geehrte, Südafrikas legendärer Präsident Nelson Mandela, war bei der Vorstellung seines Ebenbilds aus Bronze vor zehn Jahren dabei.

Frauenwahlrechtskämpferin Fawcett wird verewigt

Der zwölfte Platz soll nun an eine Angehörige der Bevölkerungsmehrheit gehen, und Wearing ist mit der Schaffung des Kunstwerks beauftragt. Geehrt wird Millicent Fawcett (1847–1929), eine englische Feministin, die Jahrzehnte lang für das Frauenwahlrecht kämpfte. Eine Suffragistin nennt man das auf der Insel, in Abgrenzung zu den häufig berühmteren Suffragetten, die für ihr Ziel Bomben warfen, in Hungerstreiks traten oder sogar ihr Leben opferten wie Emily Davison, die sich 1913 vors Pferd des Königs warf.

Gillian Wearing stellt Fawcett in ihren ganz normalen Alltagskleidern aufs Podest, vor der Brust ein Schild. "Courage calls for courage everywhere" ("Mut bringt neuen Mut hervor") kann man darauf lesen. Das Zitat stammt aus Fawcetts Ansprache bei der Traueransprache für Davison. So hat die Wearing auf ihre subtile Art den Gegensatz zwischen den Protestgruppen aufgehoben. Im Februar soll die Statue aufgestellt werden, rechtzeitig zum 100. Jahrestag jenes Gesetzes, das erstmals das begrenzte Frauenwahlrecht auf der Insel einführte. (Sebastian Borger aus London, 3.11.2017)