"Ich verkünde keine Botschaften über eine hoffnungsfrohe Zukunft", sagt Laurie Penny beim Interview in Wien, "wie 'Geht heim, und es wird sich schon alles regeln'. Nichts regelt sich von allein, sondern es gibt massenhaft Arbeit."

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Laurie Penny, "Bitch Doktrin. Gender Macht und Sehnsucht". Aus dem Englischen von Anne Emmert. € 18 / 320 Seiten. Edition Nautilus 2017

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Ihre Sprache ist radikal, und ihre Analysen umfassen das gesamte Themenspektrum des feministischen Aktivismus wie Gewalt, Schönheitsnormen, Sorgearbeit, Abtreibung oder Sexarbeit. All das kombiniert sie in ihren Texten mit ökonomischen Fragen und Rassismus. Derzeit stellt die Britin Laurie Penny in Europa ihr neues Buch Bitch Doktrin vor, das Essays der vergangenen Jahre versammelt, die mit einem US-Wahltagebuch aus dem Jahr 2016 beginnen.

STANDARD: Wir befinden uns derzeit in einer speziellen Situation. Einerseits gewinnen rechtspopulistische und frauenfeindliche Politiker weltweit Wahlen. Andererseits gibt es einen starken feministischen Aktivismus, wie es ihn vor zehn Jahren nicht gab. Ist dieser Aktivismus nur eine Reaktion?

Penny: Nein, ich glaube, es ist andersherum. Der Feminismus ist in den letzten fünf Jahren zu einer wichtigen Kraft geworden. Die Rechte kam in den USA wegen eines antifeministischen, rassistischen und xenophoben Backlashs an die Macht. Dieser Backlash entstand auch wegen des wachsenden Einflusses von Frauen und People of Color in unserer Kultur. Wenn du immer gewohnt bist, privilegiert zu sein, kommt dir schon ein klein wenig Gleichstellung mit weniger privilegierter Gruppen wie Benachteiligung vor. Wenn man sich die Websites der Alt-Right-Bewegung (Alternative Rechte, Anm.) ansieht, stößt man auf eine enge Verbindung von extremer Frauenfeindlichkeit und Rassismus, diese Verbindung ist für sie enorm wichtig und zeigt, dass es schlicht um weiße, männliche Überlegenheit geht. Generell tun sich privilegierte Menschen schwer damit, dass ihnen die Welt nicht mehr allein gehört. Das Gefühl, dass dein Anspruchsdenken attackiert wird, ist das zugrunde liegende Narrativ der antifeministischen Alt-Right. Und es ist auch das Narrativ des Brexit.

STANDARD: Inwiefern?

Penny: Auch beim Brexit spielte dieses Gefühl, wir sind womöglich nicht so wichtig, wie wir dachten, eine zentrale Rolle. Es ist faszinierend, dass praktisch niemand das Wort Empire rund um den Brexit verwendet. Ich habe vergangenes Jahr viel Zeit außerhalb von Großbritannien verbracht. Wenn über die britische Geschichte gesprochen wurde, war immer vom Empire die Rede, das war eine massive, schreckliche Sache. In einer Woche in Australien sprach ich mit Leuten öfter über das britische Empire als die letzten drei Jahre in Großbritannien. Wir haben als Nation noch immer das Bewusstsein, dass wir mächtiger sein sollten, als wir sind, aber wir können nicht so recht sagen, warum. Es geht auch hier um Anspruchsdenken.

STANDARD: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie mit dem "Mann als sozialem Phänomen" allmählich die Geduld verlieren. Was meinen Sie damit?

Penny: Das Patriarchat ist ein strukturelles Problem. Aber viele glauben, dass es um viele, viele einzelne Ereignisse geht, die nichts miteinander zu tun haben. In dieser Welt als Frau zu leben heißt, die Erfahrung zu machen, dass alle Fälle von Gewalt oder Sexismus voneinander getrennt werden. Aber es hat alles miteinander zu tun. Ich habe kürzlich versucht, das auf Twitter mit einer Geschichte zu verdeutlichen: Eine Frau geht zur Arbeit, Männer werfen viele sehr kleine Steine nach ihr – nur so zum Spaß. Als sie in der Arbeit ankommt, blutet sie von den vielen kleinen Steinen, und sie bittet um Hilfe, denn sie sei verletzt und blute.

Erst einmal sind die Männer, die sie auf dem Weg zur Arbeit mit den kleinen Steinen beworfen haben, betroffen. Doch dann gehen sie dazu über zu sagen: "Nicht meine Schuld, ich habe nur einen winzig, winzig kleinen Stein geworfen." Aber insgesamt waren es 200 Steine. Das sind die Umstände von täglichem Sexismus, das ist das Hauptproblem. Wenn wir das in Verbindung bringen mit dem, was gerade im Zuge von Weinstein passiert: Es fühlt sich vielleicht nicht fair an, weil manche jetzt genannt werden, die nur einen mittelgroßen oder kleinen Stein geworfen haben, und andere mit großen Steinen nicht. Aber es geht um die Kritik an einem System, in dem es okay ist, so etwas zu tun.

STANDARD: Wie waren die Reaktionen auf Ihre Twitter-Geschichte?

Penny: Sie waren teilweise sehr wütend. Ich denke aber, es gehört zu meinem Job, direkt mit Männern darüber zu sprechen, was sie über all das denken – etwa auf Facebook. Es gibt tatsächlich wenig Raum für Männer, über ihre Gefühle zu sprechen. Ich begann vor Jahren damit, Männer zu befragen. Im Laufe der Jahre wurden aus zwanzig Antworten auf eine Frage von mir tausende. Was seltsam ist, schließlich bin ich eine feministische Journalistin. In den USA spielt sicher mein britischer Akzent eine Rolle, die lieben ihn. Dort rufen die Männer "Oh, sag es mir gleich noch einmal, wie furchtbar ich bin", "Oh, sie sagt, das Patriarchat muss zerschlagen werden, wie lieb!". (lacht)

STANDARD: Durch die Kampagne "#MeToo" und den Fall Weinstein wurden Frauen ermutigt zu reden, über kleine, aber auch große Steine. Was wird die aktuelle Debatte für das Problem der sexuellen Gewalt gegen Frauen bewirken?

Penny: Das können wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen. Wir sind noch immer an einem frühen Punkt der Debatte. Wir können jetzt entweder entscheiden, dass das der Moment ist, in dem der Damm bricht und genug Druck da ist, um endlich das Verhalten der Leute zu ändern. Oder wir stecken das alles wieder zurück in eine Box und entscheiden, dass es zu schwer ist und dass die Sicherheit von Frauen den möglichen Schlag gegen die kulturelle Stabilität und das Ansehen von Männern einfach nicht wert ist. Was wahrscheinlich passieren wird, liegt etwa in der Mitte dieser beiden Szenarien.

STANDARD: Sie schreiben, dass Sie als weiße Frau aus der Mittelschicht nicht für alle Frauen sprechen können. Trotzdem brauchen Frauen ohne eine Stimme in der Öffentlichkeit prominente Figuren wie Sie, die auf ihre Interessen aufmerksam machen. Wie geht das, ohne chauvinistisch zu sein?

Penny: Das ist nicht möglich, ich versaue es andauernd, ich mache ständig Fehler, jeden Tag.

STANDARD: Wie zum Beispiel?

Penny: Bestimmt war es irgendetwas Dummes, das ich auf Twitter geschrieben habe – einfach, weil ich vieles nicht verstehe. Aber ich versuche immer, mit Leuten zu reden, die nicht wie ich sind, die andere Leben leben. Ich versuche, ihre Erfahrungen zu berücksichtigen, wenn ich über Verschiedenstes schreibe. Doch es ist wichtig, offen dafür zu sein, wenn man es falsch macht. Man muss damit leben, dass einem nicht alle Fehler verzeihen. Aber das ist okay, denn es ist auch wirklich beschissen, eine Rassistin zu sein, was mir schon oft passiert ist. Es ist dasselbe bei den Männern: Es tut sicher sehr weh, Sexist genannt zu werden. Aber man muss lernen, dass dieser Schmerz nicht immer so wichtig ist wie die Erfahrungen unterdrückter Menschen.

STANDARD: Feministische Aktivistin zu sein ist bestimmt kein einfacher Job. Sind Sie die ewigen Wiederholungen in den Debatten manchmal leid?

Penny: Es ist etwas seltsam. Ich reise durch europäische Städte und bin im Prinzip so etwas wie eine Darstellerin. In jeder Stadt beantworte ich Fragen, meist sehr ähnliche, und ich spreche in diesen Städten über Feminismus. Doch es gehört zu meinem Job, diese immer gleichen Themen frisch zu halten. Wie eine Kabarettkünstlerin singe ich dieselben Lieder, vielleicht immer ein bisschen anders, aber die grundlegende Tonart bleibt dieselbe.

STANDARD: In Ihren politischen Büchern gibt es keinen Feminismus, der ohne Kapitalismuskritik auskommt. Warum?

Penny: Die Vorstellung davon, was Arbeit ist, hat sich völlig verändert. Eine der größten Herausforderungen ist die Automatisierung. Das größte Wahlversprechen von Trump lautete, verlorengegangene Jobs wieder zu beschaffen. Aber welche Jobs sind das? Arbeit für Stahlarbeiter oder Fabrikarbeit – alles Jobs, die in Zukunft genauso gut von Robotern gemacht werden können. Trump versprach keine neuen Stellen für Krankenpflegerinnen oder Lehrerinnen, sondern er versprach die Rückkehr einer maskulinen Würde. Wenn wir darüber nachdenken, was Arbeit bedeutet, müssen wir auch darüber nachdenken, wie Arbeit mit Identität verbunden ist. Und wir müssen darüber nachdenken, wie unser Selbstbewusstsein eine andere Grundlage gewinnen kann als die, für den Profit von jemand anderem zu arbeiten. Das ist ein geschlechterspezifisches Argument, und auch ein antikapitalistisches.

STANDARD: Spätestens seit Ihren Kurzgeschichten "Babys machen" wissen wir, dass Sie Science-Fiction lieben. Wie ist Ihre Zukunftsvision für den Feminismus?

Penny: Wir sollten dem Impuls widerstehen, uns in eine schöne Zukunft hinüberzuretten. Wir müssen bei den anstrengenden Dingen in der Gegenwart bleiben. Wir können gerne ein wenig davon reden, was wir für eine bessere Welt brauchen. Aber ich verkünde keine Botschaften über eine hoffnungsfrohe Zukunft wie "Geht heim, und es wird sich schon alles regeln". Nichts regelt sich von allein, sondern es gibt massenhaft Arbeit. (Beate Hausbichler, 11.11.2017