Der Filmemacher Albert Serra plädiert dafür, die Bevölkerung entscheiden zu lassen – dann herrschen klare Verhältnisse.

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Barcelona/Wien - Das Kino des katalanischen Filmemachers Albert Serra liebt das Spiel mit Wiedergängern der (Literatur-)Geschichte, ob sie nun Don Quichotte, Dracula oder Ludwig XIV. heißen. 2015 hat Serra auch den katalanischen Pavillon der Biennale von Venedig mit der Installation Singularity bespielt, einer Anordnung von fünf Tableaus, die von der Ablöse des Körpers im Computerzeitalter erzählten. Im Februar wird Serra an der Berliner Volksbühne sein Theaterdebüt mit einem eigenen Stück über den Dekadenzbegriff geben, Helmut Berger ist dafür als Darsteller im Gespräch. DER STANDARD hat den Künstler in seinem Produktionsbüro in Barcelona am Telefon über die Lage in Katalonien befragt.

STANDARD: Sie haben in Ihren Filmen wiederholt von historischen Ablösen erzählt. Betrachten Sie die Situation in Katalonien als eine vergleichbare Weichenstellung?

Serra: Es ist ein wichtiger historischer Moment, weil gerade völlig unklar ist, was weiter passieren wird. Es ist das erste Mal, dass wir dieses Problem auf eine solche radikale Art erfahren. Es gibt nichts, was uns helfen kann – nichts, was uns anleiten könnte.

STANDARD: Wie stehen Sie zum Referendum? Waren Sie von Anfang an dafür?

Serra: Ja, natürlich. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung von Katalonien will das Problem mit einem Referendum lösen. Auch diejenigen, die gegen die Unabhängigkeit sind. Für jeden vernünftig denkenden Menschen gibt es keinen anderen Ausweg. Nur so lässt sich herausfinden, was die Leute wirklich wollen. Alles andere würde bedeuten: noch mehr Probleme.

STANDARD: Sie befürchten nicht, dass solche Referenden der Komplexität der Lage nicht gerecht werden können?

Serra: Ich glaube an das Konzept der direkten Demokratie. Michel Houellebecq hat beispielsweise gesagt, dass er ganz generell für diese Idee der Volksabstimmung ist. Man stellt eine konkrete Frage, die Bevölkerung stimmt ab, und dann setzt man das um. Man könnte das wie in der Schweiz ruhig öfter machen. Ich fürchte mich nicht davor, zu erfahren, was die Leute denken. Und warum sollte man etwas tun, was die Mehrheit der Bevölkerung nicht will? Natürlich haben die jüngsten Entwicklungen das weiter verschoben: Nun hat man die Regierung Kataloniens ins Gefängnis gesteckt. Nun hat die Leidenschaft die Vernunft abgelöst.

STANDARD: Wie denken Sie über die Gründe für die Unabhängigkeit sind sie mehr ökonomischer Natur oder hat es mehr mit der Frage der kulturellen Identität zu tun?

Serra: Es ist eine Mischung von vielen Dingen, die man von außen schwer verstehen kann. Eine Mischung aus Gefühlen, wo einmal das eine, einmal das andere überwiegt. Man muss verstehen, dass der Partido Popular von Mariano Rajoy in Katalonien nur an der fünften Stelle liegt. Die Partei ist irrelevant. Die wichtigsten Parteien Spanien sind allerdings gegen das Referendum. Die Angelegenheit muss gelöst werden. Puigdemont und seine Regierung wurden schließlich demokratisch gewählt. Sie hatten eine absolute Mehrheit im Parlament.

STANDARD: Aber ganz so einfach ist es doch nicht – man hat sich über die Gesetze gestellt.

Serra: Lassen Sie mich es so sagen: 2,3 Millionen haben abgestimmt, plus jene, die nicht gezählt wurden. In einem Land mit sechs Millionen Einwohnern kann das doch nicht illegal sein. Das ist ein politisches Problem. Das Gefühl, diese Stimmungslage wird nicht einfach verschwinden wie von magischer Hand. Im Gegenteil, es wird, fürchte ich, nur gewaltsamer.

STANDARD: Es geht um den Unterschied zwischen dem, was legitim, und dem, was legal ist. Das Referendum war legitim, aber nicht legal.

Serra: Ja, aber das kann man nicht damit lösen, dass man zwei Millionen Menschen ins Gefängnis steckt. Viele Gesetze waren einmal illegitim, und man hat dafür gekämpft, dass es anders wurde. Sonst würde es heute etwa immer noch Segregation geben. Man muss also das Gesetz ändern, wenn diese Leute die Mehrheit repräsentieren. Es wird Neuwahlen geben – da wird man dann sehen, wie wichtig dieses Begehren ist.

STANDARD: Als Künstler bekennt man sich ja auch zu einer bestimmten Kultur. Was macht die Katalanen denn so unabhängig vom Rest Spaniens?

Serra: Dazu gibt es zwei Punkte zu sagen: Die Hochkultur ist davon unbeeinträchtigt. Die Elite Spaniens respektiert alle Kulturen, man steht für Diversität und Austausch ein. Da gibt es überhaupt kein Problem. Doch sobald es um Volkskultur oder Folklore geht, sieht die Sache schon anders aus. Da gibt es eine eindeutige Tendenz, die katalanische Wurzeln auszureißen oder zu attackieren. Auf der Ebene der Erziehung und der Volkskultur wird es am offensichtlichsten.

STANDARD: Es geht also um das Überschreiben einer Minderheitenkultur mit einem hegemonialen Modell?

Serra: Ja, man nimmt politisch Einfluss auf die Bildungseinrichtungen, auf die Sprache. Und mit der Wirtschaftskrise kommt noch der ökonomische Faktor hinzu.

STANDARD: In der "New York Times" wurde in einem Kommentar auf ein archetypisches Muster zwischen Spanien und Katalonien verwiesen: Der starke Mann steht stets dem Märtyrer gegenüber. Ein zutreffendes Modell?

Serra: Nun ja, Katalonien hat die stärkere republikanische Tradition, Spanien befindet sich mehr auf der imperialen Seite. Man agiert immer noch wie in einem Großreich. Spanien ist allerdings ein Großreich, das kein Geld mehr hat. Und so etwas ist ein gefährliches Gebilde. Katalonien hingegen besitzt diese Tradition des Kleinbürgertums, es ist unternehmerisch geprägt, in der Tradition des französischen Bürgertums. Alle Präsidenten Kataloniens haben an französischen Schulen studiert. Aber man muss das nicht zuspitzen: Ich schätze auch Spanien sehr, seine irrationale Seite, die historisch betrachtet eine großartige Quelle für Kunst war.

STANDARD: Das heißt, die Bewegung trägt für Sie keinerlei nationalistische Züge?

Serra: Nein, das ist ein Mythos. Sie ist durchmischt mit Leuten, die ganz unterschiedliche Hintergründe haben. Viele kommen aus Spanien. Das ist vielleicht sogar eine der stärksten Punkte der Bewegung, denn sie ist integrativ und schließt Leute ein, die nicht in Katalonien geboren wurden. Sie sprechen nicht einmal alle die Sprache. Es gibt Bündnisse zwischen rechten, linken, ja extrem linken Positionen. Und das macht die Bewegung stark, man wird sie mit dem Vorwurf des Nationalismus nicht so leicht auseinanderdividieren können. Die Frage des Referendums lautete ja auch, ob man einen Staat in Form einer Republik haben möchte. (Dominik Kamalzadeh, 9.11.2017)