In welch bewegten Zeiten wir leben, zeigt die Tatsache, dass eine aktuelle Entwicklung fast nur nebenbei zur Kenntnis genommen wird: Der "Islamische Staat", der auf dem Höhepunkt seiner Ausdehnung im Irak und in Syrien mehr als zehn Millionen Menschen unter seiner Macht hatte, steht vor dem territorialen Ende. Die 2014 verschwundene irakisch-syrische Grenze ist wiederhergestellt. Den "Staat", der Tausende meist jugendlicher Mitläufer aus Europa und anderen Teilen der Welt anzog und damit ungeahnte – oder auch nur ignorierte – Bruchlinien in unseren Gesellschaften aufzeigte, gibt es nicht mehr.

Feindseligkeiten in Syrien

Und was nun, wo bleiben die Freudenfeiern? Es gibt sie natürlich, vor allem jedoch zelebrieren die Menschen in den vom IS befreiten syrischen und irakischen Städten das ganz normale Leben – und sind doch teilweise sehr besorgt oder sogar schon wieder enttäuscht. Befreier kann man sich nicht aussuchen: Die Bevölkerung im irakischen Mossul etwa könnte bei aller Dankbarkeit auf die Präsenz schiitischer Milizen schon wieder verzichten. In Syrien wachsen die Feindseligkeiten den kurdischen Milizen gegenüber, die von den USA als lokale Kraft gegen den IS aufgebaut wurden. Das Assad-Regime profitiert davon.

Alle politischen Probleme, die den Aufstieg der anfangs zahlenmäßig überschaubaren Terrormiliz IS ab 2013 erst möglich gemacht haben, sind völlig ungelöst. Der IS ist weg, aber das bedeutet nicht Frieden. Im Gegenteil, die Zeit der Nachfolgekonflikte hat begonnen. Dabei ergeben sich dramatische Entwicklungen: Die irakischen Kurden etwa, ohne die der Kampf gegen den IS kaum denkbar gewesen wäre, haben mit ihrem Unabhängigkeitsreferendum zu hoch gepokert und alles wieder verspielt, was sie seit 2014 gewonnen hatten. Ob dadurch die irakische Staatlichkeit wirklich stärker geworden ist, kann hinterfragt werden.

Geläuterte und Radikalisierte

So wie im Nahen Osten, so sind auch in Europa, woher viele IS-Kämpfer kamen, die Problemfelder weitgehend unbearbeitet geblieben. Die Überlebenden kommen zurück, manche geläutert, manche radikalisiert. Das Territorium des "Islamischen Staats" mag Vergangenheit sein, seine Idee ist es nicht – und er wird, vielleicht unter anderem Namen, seinen Anhängern zu gegebener Zeit wieder Angebote machen. Jenes, sich mit Attentaten im Namen des Islam Verdienste zu erwerben – um den Preis auch des eigenen Lebens -, steht ohnehin immer.

Der Islam, den die Terrormiliz im Namen trägt, ist in seiner größten Krise, was viele seiner Funktionäre nicht wahrhaben wollen. Die Abgrenzung des "guten" Islam vom "missverstandenen" Islam und "Das ist nicht Islam" funktioniert nicht mehr. Es geht auch nicht um die "Verurteilungen", die von Nichtmuslimen vonseiten islamischer Institutionen immer wieder eingefordert werden (als ob das Radikale beeindrucken würde). Es braucht eine schonungslose Analyse von Traditionen, die Infragestellung von Dogmen und Engführungen. Man mag an Gott glauben: Aber Theologie ist ein menschliches Produkt.(Gudrun Harrer, 10.11.2017)