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CSU-Chef Horst Seehofer auf dem Weg zu den Jamaika-Verhandlungen in Berlin am Freitag.

Foto: Reuters/FABRIZIO BENSCH

Berlin – Die "Jamaika"-Sondierer in Deutschland gehen mit Rückenwind in den Endspurt um die Bildung einer neuen Bundesregierung. "Wir biegen auf die Zielgerade ein", sagte CSU-Chef Horst Seehofer am Freitag. Die Fachexperten von CDU, CSU, FDP und Grünen legten ihre Vorschläge in den Bereichen Europa, Bildung, Digitales, Arbeit und Inneres vor.

Am Sonntag sollen die Parteichefs und Verhandlungsführer die noch offenen Streitfragen klären und eine Prioritätenliste anlegen. Denn in den Sondierungspapieren summieren sich allein die empfohlenen Projekte bei Bildung und Forschung auf Ausgaben von mehr als 16 Milliarden Euro in den kommenden vier Jahren. Seehofer äußerte sich wie FDP-Chef Christian Lindner optimistisch, dass die Sondierungen Ende nächster Woche beendet werden können. Lindner machte bei der Forderung nach einem Aus für den Soli-Zuschlag weitere Zugeständnisse.

Differenzen zwischen Grünen und CSU

Die Generalsekretäre der Parteien zogen nach stundenlangen Beratungen am Freitagnachmittag eine positive Zwischenbilanz. "Es zeichnet sich schon jetzt ab, dass es einen gemeinsamen Rahmen (...) geben kann", sagte FDP-Generalsekretärin Nicola Beer. CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer sprach vom Übergang in die "dritte Phase". Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner forderte aber mehr Kompromissbereitschaft.

Zuvor waren erneut Differenzen zwischen der CSU und den Grünen sichtbar geworden. Scheuer hatte den Grünen "Bösartigkeit" vorgeworfen, weil sie sich über eine Blockadehaltung der CSU beklagt hatten. Kellner betonte dagegen, dass es bei den Fachthemen wechselnde Allianzen gebe – darunter sogar manchmal eine "Südjamaika-Koalition" aus CSU, Grünen und FDP.

Große Runde über Beratungen informiert

Am Freitagnachmittag wurde die große Runde der Jamaika-Sondierer über den Stand der Beratungen informiert. Danach sollte sich eine kleinere Runde aus den engeren Parteiführungen über den Sondierungsstand bei den Themen Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft, Familie, Äußeres, Klima und Umwelt unterhalten. Gerade bei Klima und Verkehr gibt es noch erheblichen Dissens. Ein Abschluss der Sondierungsgespräche ist für Donnerstag geplant.

Dann holen die Parteichefs die Zustimmung für den Beginn von Koalitionsgesprächen ein. Kanzlerin Angela Merkel will nach der CDU-Klausurtagung Mitte November die Mandats- und Amtsträger ihrer Partei in fünf Konferenzen in Stuttgart, Düsseldorf, Hannover, Leipzig und Darmstadt informieren. Die CDU bestätigte einen entsprechenden Bericht des "Tagesspiegels".

Keine Einigung bei Europa

Beim Thema Europa gab es keine Einigung in der Frage, wie in der EU Investitionen gefördert und angeschlagenen Eurostaaten geholfen werden kann. In anderen Bereichen wie der Bildung gab es dagegen Vorfestlegungen, die auch mit Ausgaben versehen waren. Bei der Digitalisierung wird in dem Sondierungspapier etwa ein Kostenrahmen für den angestrebten Ausbau der Internet-Übertragungsgeschwindigkeit in den Gigabit-Bereich bis 2025 von 20 Milliarden Euro genannt. Einig waren sich die Experten auch über eine verpflichtende Rentenversicherung für Selbstständige und den Ausbau der privaten Rentenversicherung.

Den Expertenvorschlägen müssen die Chefs der vier Parteien allerdings noch zustimmen. Möglicherweise müssen Vorhaben zudem wieder abgespeckt oder sogar gestrichen werden, weil es auch andere milliardenteure Wünsche wie den Abbau des Soli, eine Steuerreform oder Mehrausgaben für Europa, Verteidigung und Entwicklungshilfe gibt. Eine Jamaika-Koalition kann dem Bundesfinanzministerium zufolge in den kommenden vier Jahren aber nur mit einem zusätzlichen finanziellen Spielraum von maximal 30 Milliarden Euro rechnen.

Strategien gegen Altersarmut

Im Politikfeld Arbeit, Pflege und Gesundheit hatten sich die Unterhändler auf eine Ausdehnung der sogenannen Riester-Rente auf Selbstständige geeinigt. Die Unterhändler von Union, Grünen und FDP wollen laut einem Arbeitsgruppenpapier mit Stand Donnerstagabend gerade für Gründer neben der Riester-Option noch eine Pflicht-Rente. Mehr tun wollen die Sondierer auch gegen Altersarmut von Geringverdienern: "Uns eint der Wille, dass jemand, der länger gearbeitet hat, im Alter mehr haben soll als die Grundsicherung." Geplant sei zudem eine Verbesserung der Erwerbsminderungsrente.

In der Alten- und Krankenpflege ist ein Sofortprogramm geplant. In dem Reuters vorliegenden Papier der Fachgruppe heißt es: "Es werden Sofortmaßnahmen für eine bessere Personalausstattung in der Altenpflege und im Krankenhausbereich ergriffen und dafür zusätzliche Stellen zielgerichtet gefördert."

Seehofer hatte vor Beginn der Gespräche am Freitag nochmals an die gemeinsame Verantwortung der Unterhändler appelliert. "Wir wissen um unsere Verantwortung gegenüber der Bevölkerung. Die werden wir wahrnehmen." Er dementierte wie CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, dass die CSU wegen der parteiinternen Querelen um Seehofers Zukunft in den Gesprächen geschwächt sei.

Seehofer verstärkt unter Rücktrittsdruck

Unterdessen wurde bekannt, dass nach einer Umfrage fast drei Viertel der Bayern dafür sind, dass Seehofer seine Ämter als Ministerpräsident und CSU-Vorsitzender aufgibt. Nach einer am Freitag veröffentlichten Forsa-Umfrage im Auftrag der Mediengruppe RTL unterstützen 72 Prozent der Befragten entsprechende Rückzugsforderungen. Auch eine klare Mehrheit der CSU-Anhänger (61 Prozent) tut dies.

Am vergangenen Wochenende hatte die Junge Union Bayern mit der Forderung nach einem personellen Neuanfang für Furore gesorgt und den Rückzug Seehofers gefordert. Der seit Monaten unter Druck stehende Parteichef kündigte daraufhin an, unmittelbar nach der Sondierungsphase über eine Jamaika-Koalition in Berlin einen Plan für die Personalfragen in der CSU vorzulegen. Die Sondierungen sollen nächsten Donnerstag enden. (APA, 10.11.2017)