Im Moskauer Skulpturenpark: Statuen ehemaliger Sowjetherrscher, darunter auch Lenin.

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Das Lenin-Museum in dessen Geburtsstadt.

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Wer heutzutage durch Russland reist, dem kann es nicht entgehen, dass in jeder größeren Stadt ein Lenin-Denkmal steht. Dabei verfestigt diese Figur mit Spitzbart und ausgestrecktem Arm dem Betrachter das von ihm ohnehin mitgebrachte Klischee eines politischen Demagogen und weltweit bekannten Revolutionärs. Aber wer war dieser Mann, der 1870 in Simbirsk (heute Uljanowsk) an der Wolga mit dem bürgerlichen Namen Wladimir Iljitsch Uljanow geboren wurde und 1924 in Gorki Leninskije bei Moskau starb? Mir ergab sich eine überraschend plastische Antwort auf diese Frage, als ich kürzlich – und somit kurz vor der einhundertjährigen Wiederkehr der Oktoberrevolution (nach dem gregorianischen Kalender am 7. November 2017) – während einer zweiwöchigen Fahrt auf der Wolga die Gelegenheit hatte, Lenins Geburtsstadt zu besichtigen.

In Uljanowsk erinnern heute mehrere Lokalitäten an die Herkunft des bolschewistischen Revolutionärs und Mitbegründers des kommunistischen Staatssystems. Besonders hervorzuheben sind das moderne Lenin-Zentrum mit Ausstellungsräumen und Konferenzsälen, das sich wie ein Schutzmantel über das bescheidene Geburtshaus und ein weiteres Gebäude, in dem das Kind Wladimir die ersten Lebensjahre mit seiner Familie verbrachte, erstreckt. Noch geschichtsträchtiger als diese moderne Installation ist das in der Lenin-Straße befindliche Lenin-Museum, das in dem Gebäude eingerichtet ist, in dem Wladimir mit seinen Eltern und Geschwistern aufwuchs.

Gläubiger Mensch – bis 1886

Da die Biographie Lenins – wie der Revolutionär seit seinem Gang ins westeuropäische Exil im Jahre 2000 sich nannte – zur Genüge bekannt ist, seien hier nur ein paar Einzelheiten erwähnt, die ich aus dem Mund der Führerin durch sein Heim, das jetzt als Museum dient, vernahm: Der Vater war ein angesehener Schulmann, dem auf dem Höhepunkt seiner beruflichen Laufbahn die Verantwortung für mehrere hundert öffentliche Schulen oblag; und die Mutter war eine hochgebildete Frau deutsch-schwedischer Herkunft, die in ihren Kindern die Kenntnis mehrerer Fremdsprachen und die Liebe zur klassischen Musik entfachte. Lenins Lieblingsstück war Beethovens Pathetik-Sonate. Ihr schwarzer Flügel befindet sich, wie auch Wladimirs Kinderbett, unter den Ausstellungstücken des Museums, dessen Wände Familien-Fotografien aus der Jugendzeit des späteren Revolutionärs schmücken.

Dass in der Familie auch die Religion eine gewisse Rolle spielte, geht schon daraus hervor, dass es sich beim Vater um ein aktives Mitglied der russisch-orthodoxen Kirche handelt und die Mutter einer lutherisch-evangelischen deutsch-schwedischen Familie entstammte. Wladimir selbst sei, wie von der Führerin betont wird, ein gläubiger Mensch gewesen, und zwar bis 1886, als der unzeitgemäße Tod seines Vaters in Simbirsk und die kurz danach in St. Petersburg statt gefundene Hinrichtung seines Lieblingsbruders Alexander (geboren 1864, von Wladimir mit der Koseform Sascha genannt) – wegen seiner Teilnahme an einem fehlgeschlagenen Attentat auf Zar Alexander III – die Glaubenskrise des angehenden Revolutionärs auslöste.

Atheismus als kommunistischer Grundpfeiler

Es braucht kaum einer Erwähnung der Folgen, welche Wladimirs Absage an die Religion später zeitigte, als er den Atheismus zu einem Grundpfeiler des kommunistischen Staates machte: An den Abriss von sakralen Bauten oder deren Zweckentfremdung als Lagerräume etwa erinnern auch heute zur Zeit einer religiösen Renaissance noch viele Plätze in den russischen Städten.

Die topografischen Zeugnisse von Lenins Herkunft beschränken sich nicht auf die genannten biografischen Objekte in seiner Geburtsstadt. Verlässt man das Lenin-Museum durch die Hintertüre, so erblickt man die weitläufige Spielwiese und den großen Gemüsegarten, die zum Anwesen der Familie Uljanow gehörten. Auch das humanistische Gymnasium, das der heranwachsende Wladimir mit ausgezeichnetem Erfolg absolvierte, zeigen einem die Reiseführer, und somit den Schulweg, den der spätere Revolutionär mehrere Jahre lang täglich zurücklegte.

Aber wie schon erwähnt, geht es hier nicht um eine Ergänzung bereits dokumentierter biografischer Details sondern um die überraschende Erfahrung eines nur zufällig kurz vor der einhundertjährigen Wiederkehr der Oktoberrevolution durch Russland reisenden Touristen und dessen neugierigen Einblick in den biografischen Hintergrund eines der berühmtesten Revolutionäre der Weltgeschichte. Was bleibt, ist die Einsicht, dass hinter jeder politischen oder historischen Klischeefigur ein Mensch mit Fleisch und Blut steht.(Helmut Pfanner, 10.11.2017)