In Deutschland solle jetzt Facebook selbst über kriminelle Inhalte entscheiden, sagt Medienforscher Stephan Russ-Mohl. "Das wiederum heißt, dass Facebook zur Zensurinstanz wird und, um Strafen zu vermeiden, absehbar sehr kräftig zensurieren wird. In einem Rechtsstaat müssten darüber eigentlich Gerichte entscheiden."

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STANDARD: In Ihrem neuen Buch "Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde" beschreiben Sie, warum Digitalisierung die Demokratie gefährdet. Wie wirkt sich das auf die im sozialen Netz gehypte Diskussion über sexuelle Belästigung aus? Oder anders angefragt: Gefährdet #MeToo die Demokratie?

Russ-Mohl: Das Anliegen von #MeToo ganz bestimmt nicht. Das ist ein sehr berechtigtes und wichtiges Anliegen, das an die Öffentlichkeit gehört. #MeToo ist aber auch ein Beispiel, wie sich die Diskussion im Netz polarisiert, wie Schwarz-Weiß-Töne gegenüber differenzierteren Grauschattierungen den Diskurs dominieren. Um diese Grautöne würde es mir aber gehen, wenn wir von Demokratie sprechen. Ich sehe die Diskursfähigkeit im Netz gefährdet und beobachte mit Sorge, wie sich in unseren westlichen Demokratien eine Polarisierungsschere auftut. Da wird es schwieriger, über die Gräben hinweg miteinander zu kommunizieren und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Ein Stichwort sind Echokammern oder Filterblasen, wo jeder in seinem eigenen Kokon eingesponnen ist und nicht mehr mitbekommt, was sich links und rechts von ihm tut.

STANDARD: Aber ist das wirklich so? Das Bild vom ohnmächtigen Medienkonsumenten, der sich hilflos den Nachrichtenfluten ausgesetzt sieht, glaubte man längst überwunden im Austausch mit einem emanzipierten Mediennutzer. Warum taucht es jetzt so gehäuft auf?

Russ-Mohl: Natürlich ist es schön, wenn Nutzer aktiv sein können, aber wir sind häufig in Filterblasen unterwegs und bemerken es gar nicht mehr – das gilt übrigens auch für Journalisten und Wissenschafter. Da müssen wir das Bewusstsein schärfen, dass wir Gefahr laufen, einen Teil der Wirklichkeit auszublenden. In letzter Zeit ist doch deutlich geworden, dass es neben für die Demokratie engagierten Nutzern auch Leute gibt, die einfach blinden Hass verbreiten.

STANDARD: Laut Ihrer These nährt medialer Populismus politischen Populismus. Heißt das, Medien sind wieder einmal an populistischen Auswüchsen schuld – AfD, Türkis-Blau, Burkaverbot, #MeToo?

Russ-Mohl: Bestimmte Formen von Journalismus sind daran sicher mitschuldig, und zwar dann, wenn der Journalismus solchen Strömungen mehr Aufmerksamkeit gewährt, als sie verdienen würden.

STANDARD: Charakteristisch für die Webdebatten ist ihre Grundaufgeregtheit. Ein Systemfehler, der nicht mehr rückgängig gemacht werden kann?

Russ-Mohl: Ein Systemfehler ist es insofern, als sich die großen Plattformbetreiber, zum Beispiel Facebook, Google, Youtube, immer noch als IT-Unternehmen deklarieren, obwohl sie de facto Medienunternehmen geworden sind und als solche auch für die Inhalte, die sie publizieren und transportieren, eine gewisse Mitverantwortung tragen. Für die Grundaufgeregtheit sorgt übrigens ein ganz kleiner Teil der Webnutzer, und von denen lassen wir uns manchmal ins Bockshorn jagen. Wissenschaftliche Erkenntnisse, zum Beispiel über die kleine Minderheit solch lautstarker und gehässiger User, könnten sehr oft Journalisten beim Einordnen helfen, wenn Journalisten sich für diese Erkenntnisse interessieren würden – was sie in der Regel nicht tun, leider.

STANDARD: Wie sehen Sie den Auftritt von Journalisten in sozialen Medien: Sollen sie sich beteiligen oder raushalten? Stichwort Twitter, Stichwort erhitztes Netz.

Russ-Mohl: Beteiligen, und zwar schon deshalb, weil die sozialen Netzwerke fantastische Quellen sind, wenn man sie pflegt und mit den richtigen Leuten in Kontakt bleibt – das gilt sowohl für Journalisten als auch für Wissenschafter wie mich. Wie viel man sich selbst engagiert und postet, muss jeder für sich entscheiden. Auch der Arbeitgeber hat da ein Wörtchen mitzureden. Als angestellter Journalist beeinflusst man das Branding des Mediums, für das man arbeitet. Ich denke, die Chefs sollten da großzügig sein und bestimmte Freiheiten gewähren, aber sie müssen auch darauf achten, dass es irgendwie zur eigenen Marke passt, was die lieben Kolleginnen und Kollegen posten.

STANDARD: Parteien kreieren mittlerweile ihre eigene Nachrichtenwelt in sozialen Medien, einige davon durchaus erfolgreich. Haben sie damit auf Dauer Erfolg?

Russ-Mohl: Sie beschleunigen zumindest fürs Erste den Bedeutungsverlust von Journalismus. Gerade weil die Journalisten ihre Schleusenwärterer-Funktion eingebüßt haben, findet ein Faktencheck, wie er früher zumindest ansatzweise üblich war, im Netz oft nicht mehr statt. Damit sind die Tore für alle möglichen Akteure geöffnet, darunter auch Leute, die mit Fake-News Geld verdienen oder politischen Einfluss gewinnen wollen. Je weniger wir bereit sind, für guten Journalismus zu bezahlen, desto mehr wird dies zunehmen und desto mehr leidet die Demokratie unter schlecht oder falsch informierten Bürgern, die entsprechend empfänglich sind. Viele nehmen bei Kontroversen an, die Wahrheit liege in der Mitte, und wenn die Wahrheit irgendwo in der Mitte wahrgenommen wird, dann hat der, der die Fake-News in Umlauf gebracht hat, sein Spiel schon gewonnen, weil er sein Publikum verunsichert und weil die Wahrheit dann eben verzerrt wahrgenommen wird.

STANDARD: Woher kommt das Misstrauen in den Journalismus?

Russ-Mohl: Man misstraut Journalismus mittlerweile von Grund auf, weil Fake-News in den sozialen Netzwerken "gleichberechtigt" unterwegs sind und sich das Publikum mit der Einordnung schwer tut. Wir wissen seit bald 50 Jahren, dass der Beruf des Journalisten nicht sehr angesehen ist und dass das Vertrauen in Journalismus abnimmt, aber vor solchen Einsichten haben zu viele Medienmanager und zu viele Chefredakteure die Augen verschlossen. Hätten sie das früher zur Kenntnis genommen und über Korrekturen nachgedacht, würde es heute vielleicht anders aussehen. Ich habe drei Rezepte anzubieten, mit denen ich mir seit 20 Jahren den Mund fusselig rede, womit ich aber bislang nichts erreicht habe. Erstens: Seid ehrlicher und korrigiert eure Fehler. Zweitens: Kümmert euch um die Beschwerden eurer Leser. Drittens: Es braucht einen Journalismus, der sich intensiv mit dem eigenen Metier beschäftigt. Ohne kontinuierliche Berichterstattung über Medien und Journalismus mangelt es beim Publikum an Qualitätsbewusstsein für Journalismus, und wenn kein Qualitätsbewusstsein da ist, gibt es auch keine Zahlungsbereitschaft.

STANDARD: Beim Thema Qualität spielen Ressourcen eine Rolle. Sind intelligente Bot-Systeme ein Weg?

Russ-Mohl: Wir werden uns mit den verschiedenen Formen der künstlichen Intelligenz in den nächsten Jahren sehr intensiv auseinandersetzen müssen. Ich fürchte, dass da auch viele Stellen wegrationalisiert werden, weil Bots zumindest einfache Texte schreiben können. Umgekehrt kann ich mir vorstellen, dass es den verbleibenden Journalisten hilft, ihre Arbeit besser zu machen. Alles, was von den Routineaufgaben entlastet, trägt dazu bei, dass man sich den spannenderen und wichtigeren Fragen intensiver widmen kann – wenn nicht einfach nur die Leute, die die Routineaufgaben gemacht haben, wegrationalisiert werden.

STANDARD: Facebook testet die Auslagerung von Medien. Was bedeutet das für den Journalismus?

Russ-Mohl: Es zeigt, welche Machtpositionen diese Plattformbetreiber inzwischen haben. Vermutlich läuft es darauf hinaus, dass noch weniger und noch zufälliger Nachrichten und Informationen zum einzelnen Facebook-Nutzer gelangen und Nachrichten mit persönlichem Status mehr Gewicht kriegen. Ich halte das für eine fatale Entwicklung.

STANDARD: "Ohne Gesetze wird es nicht gehen", schreiben Sie. Welche gesetzlichen Rahmenbedingungen braucht es?

Russ-Mohl: Das ist mit die schwierigste Frage, die ich mit einer Gegenfrage beantworten möchte: Was darf nicht passieren? In Deutschland sollen jetzt Facebook und andere Plattformbetreiber innerhalb von 24 Stunden selbst über kriminelle Inhalte entscheiden. Wenn sie das nicht tun, drohen hohe Strafen. Das wiederum heißt, dass Facebook zur Zensurinstanz wird und, um Strafen zu vermeiden, absehbar sehr kräftig zensurieren wird. In einem Rechtsstaat müssten darüber eigentlich Gerichte entscheiden.

STANDARD: Wie schaut es mit Medienförderung aus?

Russ-Mohl: Da ist Österreich ein Paradefall, wo es Korrekturbedarf gäbe. Es geht gar nicht, dass man die Blättchen, die einen politisch am meisten promoten, auch mit den meisten Anzeigen versorgt. In der Schweiz geht die Diskussion in die Richtung, dass wir vermehrt Infrastruktur öffentlich fordern müssen: Ausbildung, Forschung, Instanzen wie den Presserat – alles, was Journalismus helfen könnte, Qualitätsstandards zu halten. Wir sollten auch Fördertöpfe schaffen, die Start-ups für eine befristete Zeit Geld geben, um Medienvielfalt zu erreichen.

STANDARD: Der Verleger Philipp Keel sagt, es braucht im Verlagswesen eine Rebellion gegen Amazon. Hat er recht?

Russ-Mohl: Wenn es um Zeitungen geht, weiß ich nicht, ob Rebellion angesagt ist. Ich würde es erst einmal sehr viel intensiver mit Aufklärung probieren. Wie töricht Journalisten im Umgang mit der eigenen Misere sind, zeigt das Beispiel einer Studie, in der Dresdener Wissenschafter erforscht haben, wie es um die Vermittlung von Medien- und Nachrichtenkompetenz in deutschen Schulen steht. Es zeigt sich, dass das Thema sowohl in den Lehrplänen als auch in den Schulbüchern so gut wie gar nicht vorkommt und unter Lehramtsanwärtern erstaunliche Ahnungslosigkeit herrscht. Die Medien in Deutschland haben bis auf wenige Ausnahmen diese Erkenntnisse totgeschwiegen. Es ist traurig, dass die Leitmedien so wichtige Forschungsergebnisse einfach nicht aufgreifen, obwohl es doch in ihrem ureigensten Interesse sein müsste, dass ein Aufschrei durch die Bevölkerung geht. Ich habe das Thema selbst wie Sauerbier verschiedenen Redaktionen angeboten, weil ich es so wichtig finde. Die meisten haben nicht einmal geantwortet.

STANDARD: Vielleicht auch eine der Auswirkungen der Digitalisierung: Die Umgangsformen leiden.

Russ-Mohl: Gut möglich. (Doris Priesching, 24.11.2017)