Endlich muss er sich trauen: Lange hat Andreas Schieder gezögert, ehe ihn die Lage nun zum Outing zwingt. Auf Bundesebene sind die Chancen auf einen nennenswerten Karrieresprung mangels Regierungsbeteiligung passé. Will der 48-Jährige nicht als ewiges Talent übrigbleiben, hat er keine andere Wahl, als sich jetzt um das Amt des mächtigen Wiener SP-Chefs und damit auch des (vorläufigen) Bürgermeisters zu bewerben – auch wenn auf ihn, ganz ungewohnt für einen Sozialdemokraten, ein starker Gegenkandidat in der Person des Stadtrats Michael Ludwig wartet.

Auf den ersten Blick bringt Schieder wenig für die Rolle eines Volkstribunen mit. Der Mann aus dem Wiener Bezirk Penzing ist keiner, der sein Publikum fesselt, neigt in Reden zu schachtelsatzlastiger Langatmigkeit, spielt sein Talent zur Ironie nur abseits der breiten Öffentlichkeit aus. Die SPÖ-Riege im Parlament hat er während der vergangenen vier Jahre als Klubchef souverän geführt, dabei aber – obwohl sachpolitisch durchaus beschlagen – nicht allzu viel inhaltliches Profil aufgebaut. Kaum ein Anlass, bei dem Schieder das Risiko eingegangen wäre, sich mit einer markigen Position zu exponieren.

Das könnte man als Opportunismus eines Funktionärs deuten, der zwar in allen Machtzirkeln mitmischte, jedoch nie selbst den Kopf hinhielt – oder aber als integrative Gabe, keine der Fraktionen in einer zerstrittenen Partei vor den Kopf zu stoßen. Mit dem Nimbus einer linken Galionsfigur, wie sie seine Lebensgefährtin Sonja Wehsely vor ihrem Abschied aus der Landesregierung verkörperte, bräuchte Schieder wohl gar nicht erst antreten: Wer Bürgermeister werden will, muss die Mitte der Partei überzeugen.

Die Zuordnung der roten Rivalen zu den beiden Polen in der Partei ist auch insofern ungenau, als Ludwig ebenso wenig uneingeschränkt rechts steht wie Schieder links. Doch eine Richtungsentscheidung bringt das Duell um die Nachfolge Michael Häupls allemal: Ludwig zeigt gegenüber der FPÖ weit weniger Berührungsängste als Schieder, der schon die unverbindlichen rot-blauen Koalitionsgespräche nach der Wahl für eine überflüssige Übung hielt. Der Ausgang der Kampfabstimmung in der stärksten Landesgruppe wird die Linie der Bundespartei beeinflussen.

Auch in anderer Hinsicht könnte das Wiener Match den Weg weisen: hin zu einer offeneren Partei, in der die Besetzung der Spitzenposten nicht ausschließlich hinter geschlossenen Türen ausgepackelt wird.

Sicherlich: Nach traditioneller machtpolitischer Logik ist der Diadochenkampf zwischen Schieder und Ludwig ein Fiasko. Der scheidende Bürgermeister hat keinen unumstrittenen Nachfolger aufgebaut, sondern monatelange Scharmützel zugelassen. Sein altes Image als allmächtiger Strippenzieher hat Michael Häupl zum Abschied gehörig ramponiert.

Doch tatsächlich bergen die vermeintlichen Versäumnisse eine Chance. Endlich haben heimische Parteigänger, wie das in anderen EU-Staaten längst üblich ist, eine echte Wahl, statt nur einen Kandidaten abnicken zu dürfen – ein demokratiepolitischer Fortschritt. Es liegt nun an den Genossen, die dafür nötige politische Reife zu beweisen: Sie sollen die überfällige Debatte über den Kurs der Partei hart, aber nicht untergriffig führen, es darf Konfrontation geben, jedoch keine Spaltung – und am Ende ist im Lager der Verlierer die Größe gefragt, sich hinter dem Sieger zu versammeln. (Gerald John, 15.11.2017)