Christian Kern: "Die ÖVP hat bis heute keinen Plan für Österreich vorgelegt, die hat nur den Plan, ein Machtkartell zu gründen."

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Der Noch-Kanzler warnt vor einem Angriff auf Wien und die Gewerkschaft. Dagegen werde man sich wehren.

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Christian Kern setzt auf die rot-grüne Koalition in Wien: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Grünen unter einem Todestrieb leiden."

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"Ich habe niemanden beleidigt oder gegen das Schienbein getreten. Umgekehrt finde ich, dass man nicht jede Unflätigkeit akzeptieren muss."

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Der Kanzler in seinem Büro am Ballhausplatz, das er bald räumen wird müssen.

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STANDARD: Das dürfte eines der letzten Interviews sein, die Sie hier als Bundeskanzler in diesem Büro geben. Macht sich Wehmut breit?

Kern: Nein, nicht im Geringsten. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die die Vergangenheit bedauern. Wir wissen, wir hätten einen besseren Wahlkampf führen können, wir wissen aber auch, dass es, selbst wenn alles reibungslos gelaufen wäre, schwierig geworden wäre, in diesem politischen Umfeld Erster zu werden. Selbstreflexion ist angebracht, aber keine Wehmut. Ich freue mich jetzt auf die neue Aufgabe, auch im Parlament.

STANDARD: Andreas Schieder tritt in Wien gegen Michael Ludwig an. Droht in der Wiener SPÖ ein Richtungskampf?

Kern: Das hat sich erst einmal vernünftig angelassen. Ich habe die Hoffnung, dass das eine faire Auseinandersetzung wird. Die Diskussion wird die Breite der SPÖ zeigen. Die inhaltlichen Unterschiede zwischen Ludwig und Schieder sind geringer, als man gemeinhin glaubt. Am Ende wird man feststellen, dass das Verbindende größer ist als das, was die Proponenten trennt.

STANDARD: Besteht nicht die Gefahr, dass die beiden Lager weiter auseinanderdividiert werden?

Kern: Das glaube ich nicht. Die Linien verlaufen auch weniger zwischen den Lagern als kreuz und quer durch die Bezirke. Ich habe kein Hehl daraus gemacht, dass ich es richtig gefunden hätte, eine gesamthafte Lösung zu versuchen, die alle umfasst hätte. Das war unrealistisch, das musste ich zur Kenntnis nehmen. Jetzt bin ich guter Dinge, dass diese Situation auch eine Chance sein kann.

STANDARD: In Wien befinden sich die Grünen, Koalitionspartner der SPÖ, in Turbulenzen. Sollten die abspringen, drohen Neuwahlen.

Kern: Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Grünen unter einem Todestrieb leiden. In Wien geht es auch darum, dass mit der rot-grünen Koalition ein politisches Modell geschaffen wurde, ein Gegenmodell zu dem, was wir jetzt im Bund erleben werden, ein Gegenmodell auch zur großen Koalition. Ich halte es für sehr wichtig, das zu bewahren. Alle, die bei den Grünen auch nur einen Restfunken an Verantwortung empfinden, werden das wohl ähnlich sehen müssen.

STANDARD: Tut es Ihnen leid, dass die Grünen aus dem Parlament gefallen sind, oder sind die Sozialdemokraten ohnedies die besseren Grünen?

Kern: Die Grünen haben immer eine gewisse Nähe zu uns gehabt, da gibt es vom politischen Denken durchaus Parallelen. Aber unser Ziel muss es sein, innerhalb des sozialdemokratischen Spektrums auch für die Wähler der Grünen noch mehr Platz zu schaffen. Die Staatspartei, die wir in allen Poren waren, hat uns zwar ausgezeichnet, aber auch zu behäbig gemacht. Die Oppositionszeit bietet uns die Chance, wieder vitaler zu werden und mehr Platz zu schaffen für spannende politische Positionierungen.

STANDARD: Manche in Ihrer Partei scheinen aber ein Unbehagen dabei zu haben, sich auf eine grüne Wählerschaft zu konzentrieren.

Kern: Bei "konzentrieren" hätte ich auch ein Unbehagen, darum geht es aber nicht. Mein Ziel ist, die Wähler, die uns jetzt das Vertrauen geschenkt haben, zu behalten, denen wollen wir dauerhaft eine neue Heimat bieten. Wir müssen aber auch im ländlichen Raum wieder stärker werden.

STANDARD: Wie schwierig wird die Umstellung auf Opposition? Ihnen wird nicht nur sehr viel Personal fehlen, Sie werden auch weit weniger Öffentlichkeit haben ...

Kern: (lacht laut) Das wird mir am allerwenigsten abgehen!

STANDARD: Die großen Neuigkeiten werden dennoch von der neuen Regierung kommen, die Nachfrage nach Ihren Antworten wird nachlassen.

Kern: Wir werden uns mit der Öffentlichkeit anders auseinandersetzen müssen. Es war ja nicht so, dass wir von den klassischen Medien Rückenwind hatten, ganz im Gegenteil. Die Lehre daraus muss sein, noch viel stärker direkte Kommunikationskanäle zu entwickeln. Wir müssen auch unseren Zugang zur Zivilgesellschaft wieder stärker ausbauen.

STANDARD: Eine Aussöhnung mit dem Boulevard streben Sie nicht an?

Kern: Ich habe mir nichts vorzuwerfen, ich habe niemanden beleidigt oder gegen das Schienbein getreten. Umgekehrt finde ich, dass man nicht jede Unflätigkeit akzeptieren muss. Das muss jeder für sich entscheiden. Ich lebe jedenfalls gut mit weniger Zeitungskonsum.

STANDARD: Sie haben gesagt, Sie wollen die Partei der 95 Prozent sein, das wird sich nicht ausgehen. Besteht nicht die Gefahr, dass die SPÖ an Schärfe und Kontur verliert, wenn sie versucht, es allen recht zu machen?

Kern: Wir werden nicht beliebig sein, das Gegenteil wird der Fall sein. Wir werden versuchen, dass wir die nötige politische Breite behalten. Mehrheitsfähigkeit erreichst du nur, wenn du die politische Mitte mitnimmst. Wir werden unsere Positionen sicher zugespitzter formulieren. Und wir werden inhaltlich argumentieren. Bei der ÖVP finden sich keine Überzeugungstäter, da steht der Machterhalt im Vordergrund. Bei den Freiheitlichen sehe ich das anders, damit werden sie inhaltlich einen großen Einfluss auf die Regierung haben.

STANDARD: Dennoch wird die ÖVP die Regierung anführen.

Kern: Die ÖVP hat bis heute keinen Plan für Österreich vorgelegt, die hat nur den Plan, ein Machtkartell zu gründen. Das muss man umso genauer beobachten. Deswegen sind die Postenbesetzungen so relevant. Wer kommt in den Verfassungsgerichtshof? Wer wird hohe Positionen in der Ministerialbürokratie bekommen? Wer wird dann in den Ministerämtern sitzen?

STANDARD: Sie werden also Frontalopposition machen?

Kern: Diese Ablehnung und diese Verachtung, die in wesentlichen Teilen der ÖVP und FPÖ gegen die Sozialdemokraten bestehen, ist ein Faktum, das wird den Angriff auf Wien und auf die Gewerkschaft antreiben. Für unsere Oppositionsrolle heißt das, dass wir eine sehr prononcierte und sehr konfrontative Auseinandersetzung führen werden.

STANDARD: Werden die Gewerkschaften und die Arbeiterkammer in dieser Auseinandersetzung geschwächt werden, oder werden sie stärker auftreten?

Kern: Die wahre Stärke einer Gewerkschaft ist ihre Fähigkeit zu mobilisieren. Um zu mobilisieren, brauchst du ein Gegenbild. Das wird es geben. Ich gehe davon aus, dass die Gewerkschaft an Bedeutung gewinnen wird.

STANDARD: Die SPÖ hat sich im Wahlkampf gerade mit dem Thema Migration sehr schwergetan. Wenn Sie auch freiheitliche Wähler ansprechen wollen, müssten Sie dieses Thema offensiver angehen.

Kern: Wir haben eine klare Position. Das Dilemma ist nur, wir haben ständig Debatten links und rechts davon geführt. Wenn diese Debatten nicht aufhören und wir nicht die Fähigkeit entwickeln, gemeinsam zu argumentieren, wird es bei jedem Thema schwierig werden. Im Wahlkampf haben wir unsere Position zerredet, sie war nicht so klar wie das, was Kurz und Strache insinuiert haben: "Wir hauen alle raus." Das ist eines der Leiden der Sozialdemokratie in ganz Europa: die Unfähigkeit zur populistischen Zuspitzung. Wir sind nicht in der Lage, unter Vernachlässigung jeder Vernunft etwas zu fordern, von dem wir wissen, es funktioniert nicht oder es richtet sich möglicherweise gegen Menschen. Diese Fähigkeit, die Leute in aller Konsequenz hinters Licht zu führen, geht uns glücklicherweise ab.

STANDARD: Wie schätzen Sie die Rolle von Bundespräsident Alexander Van der Bellen bei der Regierungsbildung ein?

Kern: Er wird sich gut überlegen müssen, welche Personen Ministerämter bekommen sollen. Das wird sicherlich seine wichtigste Aufgabe sein. Da tun sich jetzt Leute zusammen, die sind eine wandelnde Einladung zu Demonstrationen. Ich glaube, dass es auch wichtig ist, dass hier eine Diskussion in der Zivilgesellschaft stattfindet. Parlamentarische Kontrolle ist das eine, aber auch die Zivilgesellschaft muss wachsam sein.

STANDARD: Würden Sie selbst an Kundgebungen teilnehmen?

Kern: Solange ich Bundeskanzler bin, bin ich gut beraten, das nicht zu tun. In Zukunft werden wir sehen, aber ich glaube, da ist die Aufgabe eine andere. Aber ich würde in jedem Fall meine Kinder von der Demo abholen. (Michael Völker, 17.11.2017)