Ein Knackpunkt bei den Koalitionsverhandlungen zwischen ÖVP und FPÖ ist die Frage der Pflichtmitgliedschaft in den Kammern. Die Gegner argumentieren, man solle in einer liberalen Demokratie niemandem die Mitgliedschaft bei einer Interessenvertretung vorschreiben. Die Befürworter halten dem entgegen, dass die Pflichtmitgliedschaft das Rückgrat des sozialpartnerschaftlichen Systems des Interessenausgleichs sei und eine Abschaffung gerade die Schwächeren (Geringverdiener, kleine Unternehmen) treffen würde.

Leider greift die Debatte über die Pflichtmitgliedschaft in den Kammern oft zu kurz: Es geht dabei nur vordergründig um das Verhältnis von Beiträgen und Serviceleistungen. Die zentrale Frage ist vielmehr, ob die von den Sozialpartnern ausgehandelten Kollektivverträge – das Kerngeschäft der Sozialpartner – flächendeckend gelten sollen oder nicht.

Die Grafik unten zeigt anhand der Gruppe westlicher demokratischer Industriestaaten, dass ein recht eindeutiger Zusammenhang zwischen Kollektivvertragsabdeckung und Einkommensungleichheit besteht: Wo mehr Arbeitnehmer durch KVs erfasst sind, sind die Einkommen gleicher verteilt (r = -0.60).

Das ergibt auch intuitiv Sinn: Das Wirken von Angebot und Nachfrage führt in der Regel zu größerer Ungleichheit in der Verteilung von Ressourcen. Kollektivverträge setzen dem Wirken dieser Kräfte auf dem Arbeitsmarkt Schranken, wodurch die Einkommensungleichheit gering bleibt.

Pflichtmitgliedschaft ja oder nein? Dabei geht es vor allem um die Frage, ob Kollektivverträge flächendeckend gelten sollen oder nicht.
Foto: APA/Jaeger

Die Grafik macht aber auch deutlich, dass es nicht unbedingt einer Pflichtmitgliedschaft bedarf, um eine hohe kollektivvertragliche Abdeckungsrate zu erreichen – die wenigsten Länder in Europa verfügen über eine solche. Das Beispiel Frankreich zeigt, dass geringe Einkommensungleichheit sogar mit niedrigem gewerkschaftlichem Organisierungsgrad möglich ist, indem verhandelte Kollektivverträge per Gesetz für praktisch alle Arbeitsverträge Gültigkeit erlangen.

In der Diskussion über die Pflichtmitgliedschaft in den Kammern müssen sich die Befürworter also von dem Argument trennen, dass eine Abschaffung notwendigerweise das Ende flächendeckender Kollektivverträge bedeutete. Ebenso müssen die Gegner aber erklären, wie viel Freiheit sie den Arbeitgebern bei der Anwendung zukünftiger Kollektivverträge einräumen würden. Erst dann wären argumentativ alle Karten auf dem Tisch. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 21.11.2017)