Geplant war ja eigentlich etwas ganz anderes. Eine Geschichte über Rucksäcke. Laufrucksäcke, um genau zu sein. Also jene Teile, die Trailläufer (und natürlich -innen) umgeschnallt haben und die nicht ohne Grund meistens nicht "Rucksack", sondern "Weste" heißen. Weil die Dinger schließlich so eng wie Westen sitzen, damit beim Laufen nur ja nix hüpft, wackelt oder scheuert.

Doch auch wenn Laufrucksäcke ursprünglich (und immer noch hauptsächlich) dazu dienen, Menschen fernab der Zivilisation im Notfall mit Warmem und Trockenem und einfach mit allem, was man halt sonst so braucht oder im Wald oder am Berg nicht missen will (etwa Speis und Trank, Stauraum für Handy, eine Regenjacke), griffbereit zu versorgen, sieht man sie mittlerweile auch in der Stadt immer öfter. Gerade jetzt, wenn das Wetter kälter, nässer und unvorhersehbarer wird – und man nicht in fünf Minuten wieder beim Auto ist oder man eben nicht nassgeschwitzt auskühlend auf den Bus warten will. Aber vielleicht ist das ja auch nur meine subjektive Wahrnehmung.

Foto: Thomas Rottenberg

"Nein, ist es nicht: Der Rucksack wird auch bei Nicht-Trailläufern immer mehr ein Thema", erklärte Elisa Kramer-Asperger am Telefon und lud mich ein, doch "auf einen Sprung vorbeizukommen: Da gibt es mittlerweile ein extrem breites Spektrum an unterschiedlichen Bedürfnissen mit den dazu passenden Antworten." Allein in ihrem Shop, so Kramer-Asperger, hingen über 25 unterschiedliche Westen. Oder eben Rucksäcke. "Jeder ist anders – weil jeder und jede was anderes will, braucht oder sucht." Nur eines sei gewiss: "Laufrucksäcke lösen den Hüftgurt ab. Mit Gründen."

Natürlich können Sie jetzt sagen, dass Elisa Kramer-Asperger das nicht uneigennützig sagt. Immerhin betreibt sie gemeinsam mit ihrem Mann Ed einen Laufshop: Traildogrunning. Der Laden liegt aus innergürtelzentristischer Stadtbewohnersicht am Ende der Welt. Aber dass ein auf Trail spezialisierter Laden nicht auf der Mariahilfer Straße, sondern am Stadtrand zu finden ist, hat eine gewisse Logik. Ich habe den Shop schon einmal porträtiert und gebe ganz offen zu, dass ich ihn und seine Betreiber (und ihren Hund) mag: Traildogrunning ist aber nicht nur deshalb einer der vier Wiener Laufshops, die ich vorbehaltlos empfehle. (Die anderen drei: Laufsport Blutsch, RunInc und WeMove.)

Foto: Thomas Rottenberg

Elisa also wollte mir Rucksäcke (und Westen) zeigen und erklären, machte, als ich vor Ort war, aber einen Fehler: Am Ende der Plauderei fragte sie, ob "ihr nicht morgen zum Mitlaufen vorbeikommen wollt: eine lockere Runde in zwei oder drei Tempogruppen, Schuhe zum Testen gibt es auch und danach ein Barbecue für alle bei uns". Klar dienen solche Events der Kundenakquise. Auch. Aber einerseits landen Leute, die sich fürs Traillaufen wirklich interessieren, ohnehin früher oder später bei Elisa und Ed. Und andererseits, vielleicht ja auch deshalb, habe ich noch selten Verkäufer erlebt, die weniger Verkaufsdruck und mehr Herzblut und Leidenschaft in ihr Business packen als die beiden Liesinger: Dort, wo an diesem Samstagvormittag das Zelt des Geländelaufschuhlabels Inov8 aufgebaut war und wir uns die neuesten Modelle der Gatschhüpfer aus dem Lake District anschnallen durften, hatten die beiden vor ein paar Wochen ihr eigenes Zelt aufgeschlagen – und die Teilnehmerinnen von Wien Rundumadum mit Suppe versorgt. Ich stehe bei Ed im Wort, irgendwann mit ihm zu laufen – und war insgeheim froh, dass seine Frau mich nicht für den 130-Kilometer-rund-um-die-Stadt-Trail (und sei es nur ein Teilstück) eingeladen/eingeteilt hatte, sondern nur zum Soft Trail am Samstagvormittag lud: Die Rucksackstory kommt eben ein anderes Mal.

Foto: Thomas Rottenberg

Auch wenn Traillaufen image- und bildmäßig meist hochalpin und über Ultralaufdistanzen (also alles, was länger als ein Marathon ist) stattfindet, ist die Wirklichkeit weit ziviler: Technisch lautet die Definition von Trail, dass man nicht mehr als 20 (oder sind es 30?) Prozent der Strecke auf Asphalt zurücklegen darf. Tatsächlich kann und darf man also ziemlich viel von dem, was abseits von Donauinsel, Hauptallee und Co stattfindet, Trail nennen. Obwohl das Benamsen eigentlich wurscht sein sollte. Freilich: Sagt man "Ich war Trail laufen", darf man sich einer ähnlichen Bewunderung gewiss sein wie nach der Verwendung des "M"-Wortes.

Foto: Thomas Rottenberg

Doch so wie nicht jeder Trail rund um den Mont Blanc geht, steht "Marathon" halt auch oft nach "Halb-", "Viertel-" oder "Staffel-". Aber das muss man ja nicht immer sofort betonen.

Fakt ist: Traillaufen ist derzeit der "heiße Scheiß". Der Markt von morgen. Das, wovon, sagen zumindest Auskenner, gut zwei Drittel der Läufer träumen, wo sich derzeit aber (noch) nicht einmal ein Viertel hintraut. Weil – siehe oben.

Foto: Thomas Rottenberg

Manche sehen den Trail sogar als Fernziel, obwohl sie technisch betrachtet längst auf dem Trail laufen. Im Prater, am Kahlenberg, im Wienerwald, fast überall auf dem Land: Traillaufen ist auf diesem Level nicht Rocket-Science oder genehmigungspflichtig. Es gibt keine Mindestdauer, Mindesthöhenmeteranzahl oder Mindestentfernung von der Zivilisation, damit es "gültig" ist. Denn jeder nichtasphaltierte Wander- oder Spazierweg ist eine "zulässige" Strecke: Ja, auch die Liesing entlang.

Ich betone das Offensichtliche nicht von ungefähr: Ed und Elisa Kramer wissen um Hemmschwellen und Mystifizierung – und laden gerade deshalb regelmäßig (fast jeden Samstag, Infos gibt es auf der Homepage oder ihren Facebook-Seiten) zum gemeinsamen Laufen.

Foto: Thomas Rottenberg

Gerade in der Gruppe und bei niederschwelligen Materialprobier-Events kann man da auch nicht viel falsch machen: Vorne rennt einer, der die Strecke kennt. In der Mitte auch. Und hinten sowieso.

Sollte man – was eh unwahrscheinlich ist – mit dem komplett falschen Gewand daherkommen, gibt es jemanden, der einen a) vorher warnt, b) im Notfall noch eine Jacke oder ein Shirt dabei hat oder c) (viel wahrscheinlicher) in seinem Rucksack Platz hat, das überschüssige, weil zu warme, Zeug einzustecken.

Und weil "Learning by Einfahring" nicht sein muss, ist es auch hilfreich, da den Unterschied zwischen Straßen- und Trailschuhen ausprobieren zu können. Nicht zufällig stand der Inov8-Testlauf (der Schuh heißt übrigens Trailroc) unter dem Motto "Get a grip": Wo Straßenlaufschlapfen neben Fehlstellungen und falscher Technik stützend, dämpfend, federnd vor allem die Härte der Straße ausgleichen sollen, hat der Trailschuh (egal welcher Marke) natürlich auch Passform- und Stützaufgaben, muss aber statt den "bösen" Beton-Impact zu kompensieren und Läufer vor der Auseinandersetzung mit Lauftechnikfragen zu "schützen", vor allem eines: halten.

Foto: Thomas Rottenberg

Auf der ersten Hälfte des Weges dieses Samstaglaufes hätten es normale Straßenlaufschuhe aber auch getan: Wir liefen die Liesing entlang bis zum Kollegium Kalksburg. Zunächst den Treppelweg das renaturierte Flussbett entlang. Dann beim Internat auf einem teils asphaltierten Spazierweg, bis wir knapp vor dem Schubertpark in den Wald schwenkten: Forstautobahn. Ein breiter, ebener, sich nett und sanft den Hang entlang windender, gemütlicher Spazierweg. Schön und angenehm zu laufen – und ein bisserl so, wie die Wochenendspaziergänge mit Onkeln und Tanten in meiner Kindheit im Wienerwald zwischen Perchtoldsdorf, Rodaun und Kaltenleutgeben.

Mit dem Unterschied, dass wir damals unwillig latschten – und jetzt freiwillig liefen. Dennoch: Laufen ist ja nix anderes als flottes Spazierengehen.

Foto: Thomas Rottenberg

Als Kind hatte ich diese Ausflüge gehasst. Abgrundtief. Wenn ich schon unterwegs zu sein hatte, dann wollte ich, bitteschön: Berge. Gipfel. Wände. Felsen. Dramatische Landschaften und pittoreske Formen. Zerklüftete Felsen, Wasserfälle. Pfeifenden Wind und Schneefelder. Am besten mit Gletscherspalten, Adlern und alpinem Personal: Yeti und Messner etwa. Oder zumindest Gämsen und Steinböcken. Aber hier, im Wienerwald, sagten einander doch lediglich Fuchs und Hase gute Nacht. Und nicht einmal die bekam ich zu Gesicht.

Vermutlich liegt es am Alter: Heute liebe ich es, durch den Wald zu laufen. Und außer Bäumen vor allem Bäume zu sehen. Meditativ. Wie ein Mantra – auch wenn Läufer dazu Flow sagen. Obwohl: Eventuell ist es doch nicht nur das Alter, sondern auch Intensität und Tempo der Bewegung. Denn schon der Gedanke, im Wald zu "spazieren", lässt mich in der Sekunde vor Langeweile in Ohnmacht fallen. Fällt das schon unter "traumatische Kindheitserinnerung"?

Foto: Thomas Rottenberg

Nach ziemlich genau sechs Kilometern und etwa 200 gemütlichen Höhenmetern lichtete sich der Wald. Plötzlich kannte ich mich wieder aus: Wir waren bei der Wiener Hütte gelandet. Hier war ich als Kind tatsächlich oft gewesen – aber nie von Liesing aus, sondern von Kaltenleutgeben: Meine Eltern hatten Freunde am Doktorberg.

Foto: Thomas Rottenberg

Die Schnelleren und die Ultraläufer hatten hier, knapp vor der Hütte, auf uns Laufschnecken und Anfänger gewartet – und jetzt ging es gemeinsam weiter. Das war mit einer der wirklich superfeinen unter den vielen sehr feinen Momenten dieses Laufes: Hier liefen Hardcore-Wald- und -Bergläufer gemeinsam mit absoluten Newbies. Jeder sein Tempo – aber ohne die eigene Überlegenheit demonstrativ zur Schau zu stellen. Oder gar abschätziges Kopfschieflegen oder Seufzen, weil man da jetzt auf die Langsamen wartete – was im Grunde gar nicht nötig gewesen wäre. Aber: Wir waren gemeinsam unterwegs – und keinem brach ein Zacken aus der Krone, dieses Gefühl weiterzugeben.

Foto: Thomas Rottenberg

Solche Momente zählen: Das hier war kein Wettlauf, sondern ein Ausflug. Ein Ausflug von Leuten, die einander zum Teil nicht einmal kannten, aber doch aus dem Stand Freunde waren. Eher: Aus dem Lauf zu Freunden wurden. Weil hier tatsächlich Schönes dadurch mehr wurde, dass man es teilte. Die Freude an der Bewegung im Freien. Das Lachen in den Herzen und den Augen derer, mit denen man unterwegs war. Der Blick ins Land. Der herbstliche Wald. Die unspektakuläre Schönheit der Landschaft vor der Haustür, die zu erreichen man im Grunde nicht einmal ein Auto brauchen würde.

Foto: Thomas Rottenberg

Wir waren noch nicht einmal eine Stunde unterwegs – und hatten auf dieser Strecke schon mehr Bilder und Eindrücke gesammelt, gesehen und erlebt, als andere beim Abtraben ihrer Normrunden sonst in zwei Wochen.

Foto: Thomas Rottenberg

Die Runde um den Eichberg, also von Liesing zur Wiener Hütte und zurück, ist in Wirklichkeit natürlich kein Geheimtipp. Ich glaube, die zwölf Kilometer mit ihren 350 Höhenmetern – je nach Routenwahl lässt sich da auch etliches ergänzen oder weglassen – sind auch nicht wirklich schwierig zu laufen: Ein paar wirklich steile Stellen gibt es zwar. Aber die haben auch ihren Reiz oder lassen sich entweder umgehen oder gehend bewältigen.

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Es ist eines der Phänomene im Sport, dass tatsächlich gute Athleten niemandem ein großes L (für Loser) an die Stirn picken, wenn sie nicht olympische, sondern ihre eigenen Standards erfüllen. Das Andere-Kleinmachen oder Sich-über-die-Leistung-anderer-Stellen findet nur bei denen statt, die es nötig haben: mittelmäßigen und verkrampften Ehrgeizlern. Es kommt – wieso überrascht mich das nicht – bei Männern öfter vor als bei Frauen. Hier, im Wienerwald, allerdings überhaupt nicht. Nicht einmal ansatzweise.

Foto: Thomas Rottenberg

Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: War schon das Laufen hier einfach nur schön, machte diese Metaebene des gegenseitigen Respekts und Motivierens diesen Samstagvormittag zu einem Fest.

Foto: Thomas Rottenberg

Ganz abgesehen vom Finale: Auch wenn vor dem Shop von Elisa und Ed der Wind recht zügig pfiff, fanden sie und die Inov8-Leute doch ein windgeschütztes Plätzchen, um den Griller aufzustellen. Und auch wenn die zwölf Kilometer zur Wiener Hütte und zurück jetzt nicht die Megaanstrengung gewesen waren: Diese "bösen" Kalorien hatten wir uns alle redlich verdient. (Thomas Rottenberg, 22.11.2017)

Die Route auf Strava

Anmerkung im Sinne der redaktionellen Richtlinien: Die Lauftreffs von Traildogrunning finden unregelmäßig und unentgeltlich statt (Infos unter traildog.at). Die bei diesem Lauftreff verwendeten Schuhe wurden allen Teilnehmern von Inov8 kostenlos für den Lauf zur Verfügung gestellt.


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