Wer arm ist, hat auch nur wenig Möglichkeiten zur Entfaltung, sagt Volkshilfedirektor Erich Fenninger.

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Kinder in Armut bleiben am unteren Ende der Fahnenstange.

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STANDARD: Wie sieht die Welt für ein von Armut betroffenes Kind in Österreich aus?

Fenninger: 16 Prozent der Kinder sind von Armut betroffen, sie sehen sich massiven Barrieren gegenüber, die einer guten und gesunden Zukunft im Wege stehen.

STANDARD: Wie zeigt sich das im Alltag?

Fenninger: Die Kinder haben weniger Entfaltungsbereiche, oft weniger Spielzeug, kein eigenes Kinderbett. Auch das soziale Umfeld ist anders. Für gewöhnlich lernen Kinder von der Familie sowie von anderen Kindern. Kinder aus ärmeren Verhältnissen haben aber wenig Zugang zu Gleichaltrigen. Freunde kommen seltener zu Besuch, weil die Wohnverhältnisse eng sind und die Eltern sich dafür schämen. Auch Freizeitaktivitäten sind eingeschränkt. Sportliche Hobbys oder das Lernen von Musikinstrumenten sind kostspielig. Dadurch haben die Kinder eine sehr reduzierte Lebenswelt, es fehlen wichtige Erfahrungen. In Gesellschaft mit anderen Kindern lernt man, mit Konflikten umzugehen und andere soziale Kompetenzen, betroffenen Kindern fehlt das.

STANDARD: Welche Rolle spielen dabei die Eltern?

Fenninger: Besserverdienende Eltern werden in der Öffentlichkeit wertgeschätzt, etwa wenn sie ins Restaurant gehen – das sehen die Kinder und fühlen sich dadurch selbst wertgeschätzt. Von Armut betroffene Kinder begleiten ihre Eltern zum Sozialreferat oder zum AMS und erleben, dass Mutter oder Vater nicht wertgeschätzt oder gemaßregelt werden. Solche Eindrücke wirken stark auf die Persönlichkeit von Kindern. Zudem sind Eltern meist sehr unentspannt, weil sie täglich einen Existenzkampf führen. Diese Anspannung übertragen sie auf ihre Kinder, diese werden wie bei Suchterkrankungen koabhängig von der Armut der Eltern.

STANDARD: Hat das Auswirkungen auf die Gesundheit?

Fenninger: Es fängt schon im Mutterleib an. Mütter, die sich in existenziellen Nöten befinden, bringen Kinder mit geringerem Geburtsgewicht und geringerer Körpergröße zur Welt. Sind die Kinder älter, haben sie häufiger Unfälle, weil sie einen schmaleren Radius haben, sich auszutoben. Die Kinder sind öfter krank, haben etwa Bauch- oder Kopfschmerzen und sind von Entwicklungsverzögerungen betroffen. Die Familien kaufen die billigsten Lebensmittel, haben öfter Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Es fehlt das Wissen über gesunde Ernährung, aber vor allem Zeit und Geld, darauf zu achten. Es ist natürlich auch ein Thema der Bildung. Früher neigten die Reichen zu Übergewicht, heute ist es umgekehrt.

STANDARD: Wie erleben die Kinder selbst die Armut?

Fenninger: Das Wort Armut ist im kindlichen Wortschatz kaum präsent. Wenn man betroffene Kinder fragt, wer arm ist, nennen sie meist Kinder in Afrika oder Obdachlose auf der Straße als Beispiele. Armut drücken die Betroffenen oft als Traurigkeit aus, sie wissen, sie sind "arm dran". Traurigkeit ist anfassbarer, sie merken, dass andere Kinder in den Zoo, ins Kino gehen oder mit den Eltern in den Urlaub fahren können.

STANDARD: Was können betroffene Eltern selbst tun?

Fenninger: Oft ist es gut, in der Familie über den Mangel zu sprechen. Oft können betroffene Familien Schulausflüge und Skikurse nicht finanzieren. Dass die Kinder daheim bleiben müssen, ist eine massive Erfahrung für sie. Sie haben das Gefühl, nicht zu genügen, weniger wert zu sein. Wenn Eltern Gründe und Strategien erklären, können sich die Kinder besser orientieren.

STANDARD: Wie wirkt sich die Armut auf das spätere Leben aus?

Fenninger: Wenn Kinder in die erste Schulklasse kommen, sind sie schon benachteiligt. Wo man in den sozialen Raum geboren wird, sagt aus, wo man sich als Erwachsener befinden wird. Die Kinder von armutsbetroffenen Eltern haben meist eine sehr kurze Ausbildung, nur wenige schaffen es ins Gymnasium. Die Eltern waren meist selbst nur kurz in der Schule. Über die Bildung, aber auch in nahezu allen anderen Lebensbereichen wird die Armut massiv vererbt.

STANDARD: Wie könnte man diesen Kreislauf durchbrechen?

Fenninger: Die gläserne Decke, die wir aus der Frauenpolitik kennen, gibt es auch zwischen Familien mit mehr und solchen mit weniger Einkommen. Man könnte sich überlegen, welche Leistungen ein Kind pro Monat braucht – Armutsbetroffene bekommen die Summe voll, Besserverdienende anteilig. Auch schulische Ganztagesstrukturen sind für die Kinder ein Mehrwert, sie können so auch außerhalb der Familie etwas lernen. (Bernadette Redl, 4.12.2017)