Die Szene hat auf den ersten Blick nichts Zweideutiges: Vor dem kleinen Barbiergeschäft hat sich eine Schlange gebildet. Scherzend warten die Männer, bis sie an der Reihe sind, sich ihre dichten Bärte abnehmen zu lassen. Unter dem "Islamischen Staat" waren sie Pflicht, nichts wie weg damit. Für die Frauen in Mossul gilt nun ein Gesichtsverschleierungsverbot. Aber andererseits: Wer würde schon mit Bart oder Niqab herumlaufen, im früheren IS-Land? Angst geht um, für Sympathisanten gehalten zu werden – was unter anderem dazu führte, dass nach Kämpfen die Leichen von toten Jihadisten oft lange auf der Straße liegen blieben. Sie zu bestatten hätte als Ehrerweisung missdeutet werden können.

Dass während der Tage des Untergangs der Terrormiliz, die Mossul drei Jahre lang beherrschte, auch andere zivilisatorische Regeln außer Kraft gesetzt waren, erzählt eine am Dienstag veröffentliche Guardian-Reportage von Gaith Abdul Ahad. Im Titel ist von einer "Orgie des Tötens" die Rede. Nicht der IS, dessen Hinterlassenschaft in den von ihm beherrschten Zonen in Syrien und dem Irak aus Massengräbern besteht, ist hier der Täter, sondern die Befreier sind es. Das Foltern und Töten der IS-Feinde – oder auch nur von Personen, die als solche denunziert wurden – gehört zur Satisfaktion, schreibt der Autor. Der endlose Zyklus der Gewalt: Mit dem Sieg über den "Islamischen Staat" ist er nicht gebrochen.

In Tabqa bei Raqqa in Syrien wird die zerfetzte Fahne des "Islamischen Staats" eingeholt.
Foto: AFP/Delil Souleiman

Wo sind die IS-Kämpfer hin?

Dahinter steckt natürlich auch die Sorge, dass der IS gar nicht wirklich ausgelöscht ist, nur seine Erscheinungsform "Staat". Während seiner größten Ausdehnung hatte er bis zu zehn Millionen Menschen unter seiner Kontrolle. 40.000 Daesh-Kämpfer – Daesh ist der arabische Ausdruck für den IS – seien in Mossul gewesen, wird in der Reportage ein irakischer Kommandeur zitiert: "Haben wir 40.000 getötet? Nein. Wo sind sie dann?"

In der Tat, der IS ist nicht weg, er hat nur kein Territorium mehr. Und die früheren Anhänger sind nicht nur untergetaucht. Nicht in Mossul, aber an anderen Orten – mehr in Syrien als im Irak – gab es umstrittene Arrangements, die den Abzug von IS-Kämpfern und ihren Familien erlaubten. Was absurd klingt, führte immerhin dazu, dass nicht alle IS-Städte in Trümmerhaufen verwandelt wurden. Und neben den Untergetauchten und den irgendwohin Verschobenen gibt es auch noch jene, die in den Gefängnissen sitzen, oft unter unbeschreiblichen Bedingungen. Darunter sind auch Bürger und Bürgerinnen europäischer Staaten, die auf ihre Heimkehr warten.

Wer in diesem Krieg nach verlässlichen Zahlen sucht, stößt auf Schwierigkeiten. Selbst die Frage nach der Stärke des IS bringt Angaben von 40.000 bis 250.000. Genauso ist es mit seinen Opfern. In Syrien hat die Uno aufgehört, Statistiken zu erstellen: Daten, welche Toten zu welchem Konflikt – es gibt ja auch noch den Aufstand und dessen Repression – gehören, sind nicht verfügbar. Für den Irak meldet "Iraq Body Count" mehr als 66.000 tote Zivilisten seit 2014, als der IS große Städte eroberte. Wie viele Sicherheitskräfte im Kampf getötet wurden, wird unter Verschluss gehalten, ebenso ist unbekannt, wie viele Menschen den gegen den IS gerichteten Bombardements zum Opfer gefallen sind.

Sicher ist hingegen, dass es in Syrien und im Irak jeweils mehr als 13.000 Luftangriffe der US-geführten Anti-IS-Koalition gegeben hat. Dazu kommen die russischen und die der syrischen Armee. Der Krieg hat hunderttausende Flüchtlinge produziert; zuerst jene, die vor dem IS, dann die, die vor den Angriffen der Befreier geflohen sind, weil Bomben nicht unterscheiden. Und manche flüchten, weil nun jene zurückkehren, die man loswerden wollte, als man 2014 den IS zumindest stillschweigend akzeptierte.

Anfänge im Irak

Der IS ist, zumindest als Organisation, eine Folge der US-Invasion im Irak im Jahr 2003: Der Jordanier Mussab al-Zarqawi gründete 2004 dort den irakischen Zweig von Al-Kaida. Nach seinem gewaltsamen Tod 2006 wurde aus AQI (Al-Kaida im Irak) bereits ISI ("Islamischer Staat im Irak"). Im irakischen Bürgerkrieg geschlagen, bekam die Organisation 2011 durch den Aufstand in Syrien die Chance auf Wiederauferstehung: Abu Bakr al-Baghdadi, seit 2010 ihr Führer, ließ in Syrien eine Filiale gründen, die Nusra-Front.

Später wurde der Iraker, der mit seinem echten Namen Ibrahim Awad al-Badri heißt, selbst in Syrien aktiv: ISIS ("Islamischer Staat im Irak und Syrien") war geboren. Als al-Baghdadi die Nusra-Front schlucken wollte und sich Al-Kaida-Chef Ayman al-Zawahiri vermittelnd einschaltete, sagte sich ISIS von Al-Kaida los.

Ein "Kalifat" für alle

Ab 2013 schwappte ISIS von Syrien zurück in den Irak: In beiden Ländern fielen ihm Ortschaften und Städte wie reife Äpfel in den Schoß, meist reichten ein paar tausend Kämpfer, die Bevölkerung wehrte sich nicht. Im Juni 2014 wurde Mossul, die zweitgrößte Stadt des Irak – durchaus vergleichbar mit Wien – erobert, wo Abu Bakr sein "Kalifat" ausrief und aus dem Namen seines "Islamischen Staats" "im Irak und in Syrien" strich: IS.

Wenig später setzte der internationale Krieg gegen den IS ein, der an seinen Fronten sonst verfeindete Kräfte zusammenbrachte: Im Falle Mossuls waren es irakische Sicherheitskräfte, sunnitische Stämme, schiitische, zum Teil vom Iran beratene Milizen, kurdische Peschmerga und die US-geführte Koalition aus der Luft.

Aber seit sich das Ende des IS abzeichnet, sind Duldungen, Absprachen und Koalitionen hinfällig: Und die Sieger sind nun bereit zu Konflikten untereinander. (Gudrun Harrer, 24.11.2017)