Schanghai – 4000 (!) km/h schnelle Züge. 1200 Meter hohe Wolkenkratzer. Eine Milliarde Menschen in den Städten. 1000 Kilometer U-Bahnnetz in Schanghai. In jeglicher Hinsicht Nummer eins in der Welt: Sind die Chinesen jetzt durchgeknallt? Ist ihnen der hart erarbeitete Erfolg zu Kopf gestiegen? Die Antwort lautet: Visionen braucht der Mensch. Und Strategien. Und TiC. Und BMW...

Busch und Besson

Das Weltall ist groß, besonders oben, sagte der tiefgründige Lästerer Wilhelm Busch. Sie erinnern sich an Luc Besson, Das fünfte Element? Mit fliegenden Autos, der Verkehr auf multiplen Ebenen übereinander? Richtung Weltall, besonders nach oben, strebt denn auch Schanghai, wenngleich erdgebundener, Antigravitation hat selbst China noch nicht erfunden: Die Stadt geht nicht nur immobil in die Luft, sondern auch mobil, mangels Platz baut man Autobahnen und Fußwege auf Stelzen.

Schanghai, eine Stadt auf Stelzen.
Foto: Andreas Stockinger

Geht es nach BMW, kommen oben ergänzend Elektroräder und -roller da zu. Denn das ist der Kern des urbanen Verkehrsprojekts Vision E³, an dem eine Abteilung des im französischen Viertel gelegenen Tech-Office seit 2016 tüftelt – wer sagt denn, dass nur Chinesen Visionen haben? Auf dem Fußweg dorthin fahren einem massenhaft E-Scooter und -Bikes (sechs Millionen E-Räder gibt es in der Stadt) fast unhörbar um die Ohren ...

Jedenfalls, 150 Mitarbeiter werken hier an der Zukunft des Automobils aus chinesischer Sicht, autonomes Fahren ist auch aufgrund der Schrift eine andere Herausforderung als im alphabetischen Westen. Laut Markus Seidel, Leiter des Technology-Office China, vergrößert man sich 2018 auf 200 Mitarbeiter und übersiedelt in eine neue Baulichkeit am Nord-Bund – BMW ist einer der wenigen Hersteller, der in China eine eigene Forschungs- und Entwicklungsabteilung unterhält. Man arbeitet eng mit Start-ups und Unis wie der 1907 vom Deutschen Reich gegründeten Tongji-Uni zusammen.

Markus Seidl, Leiter des Technology-Office China.
Foto: Andreas Stockinger

E³ ist eine Suche nach neuen Möglichkeiten, Staus zu vermeiden oder nicht noch mehr ausufern zu lassen, unter Berücksichtigung des dramatischen Wandels, dem die Branche ausgesetzt ist, Stichworte: Elektrifizierung, Konnektivität, Carsharing, On-Demand-Mobilität, Mobilitätsservices und überhaupt alles, was außerhalb der klassischen "Box" (=Auto) passiert. BMW denkt also über das Auto und über das Auto hinaus.

Fahren, gehen, rollen

Projektmanagerin Dandan Wang erläuterte in ansteckend enthusiastischer Manier, was gemeint ist: Vision E³ ist ein modulares System mit Basis-, Stützmodul und Fahrbahn. Man stellt sein geshartes Auto ab, einen BMW etwa, geht rüber zu E³, schnappt sich ein Miet-E-Bike oder einen E-Roller (eher nicht von BMW, zu teuer in der Anschaffung) und fährt damit zum Zielort. Die Tongji-Uni hat zwei Demorouten ersonnen, eine 8,9 Kilometer lange und mit sieben Stationen, eine mit 11,4 Kilometern, und gibt die Behörde ihr Okay, wäre das jederzeit umsetzbar. Interessante Ergänzung zum Auto-, Öffi- und Fußgängerverkehr, mal sehen, ob etwas draus wird. Spannend allerdings, wie weit BMW den Denkhorizont öffnet, wenn es um die Mobilität von morgen geht.

"E³". Projektleiterin Dandan Wang.
Foto: BMW

Übrigens, Visionen, Strategien, 4.000 km/h: Supersonische Superschnellzüge hat China sich als Fernziel gesteckt, nachdem die Aufgabe, die Gegner von Siemens, Alstom, Bombardier nach Know-how-Transfer zu überholen, erledigt ist. Das Reich der Mitte ist weltgrößter Zughersteller, jetzt will man auch technologisch enteilen.

Geht es linear so weiter, und das macht die Geschichte gewöhnlich gerne (Achtung: Ironie!), leben 2030 über 60 Prozent der Chinesen in Städten, 2050 mit 77 Prozent eine Milliarde, und wo wir schon dabei sind: Mehr Megacities – Kommunen mit zehn und mehr Millionen Einwohnern – gibt’s auch nirgendwo, sie wuchern bis dahin zu Superclustern an. Und Schanghai? Da wächst das U-Bahnnetz von 870 Kilometern (400 Stationen; alles zu wenig, die Leute werden wie Sardinen in die Waggons gequetscht) auf 1000, 1993 eröffnete die erste Linie.

Chinglisch

Das alles und die megalomanischen Visionen zur technologischen Hypermacht, zu der sich China nach Vorgabe der allweisen Staatsführung aufschwingen soll, sei TiC, verrät uns unser Führer anlässlich des Besuchs des alten internationalen Bereichs von Schanghai, dem Bund und dem gegenüberliegenden Finanzdistrikt: ein "chinglischer" Begriff, der für "This is China" stehe. Anders formuliert: Alles ist möglich.

Bis 2022 kommen 76 Prozent der Bevölkerung des Reichs der Mitte im Mittelstand an, mit Jahreseinkommen von dann ca. 8000 bis 30.000 Euro (2000: vier Prozent). Ganz oben in der Begehrlichkeit steht das eigene Auto, man hat die USA als größten Markt überflügelt, über 20 Millionen Pkw werden inzwischen jährlich verkauft. Besonders deutsche Ware ist begehrt – längst ist das Land auch bei BMW Hauptabnehmer, heuer wurden in den ersten neun Monaten 436.657 Autos verkauft. Strategische Niederlassungen unterhalten die Bayern in Peking, Schenyang und Schanghai, wobei die Stadt am Jangtsekiang Speerspitze der BMW-Innovationen in China ist. (Andreas Stockinger, 25.11.2017)

Motorisierung in Schanghai einst ...

Foto: Andreas Stockinger

... und jetzt.

Foto: Andreas Stockinger

Platznot zwingt zum Stelzenbau.

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"E³": Auf Basis-, Stützmodul und zwei Fahrbahnen gelangt man per E-Bike oder -Scooter zum Ziel.

Foto: BMW

Das (E-)Rad bleibt massiv ein Thema.

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Roller und E-Roller sind omnipräsent.

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Am Süd-Bund auf dem Expo-Gelände unterhält BMW ein Fahrerlebniszentrum. Zum Flanieren und Trainieren.

Foto: Andreas Stockinger