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Geht es nach ÖVP und FPÖ, dann soll der Weg zum Schulabschluss für manche Jugendliche verlängert werden. Doch die geplante Bildungspflicht stößt auf Widerspruch.

Foto: AP / Michael Probst

Wien – Ob Lesen, Rechnen oder Naturwissenschaften: Ein gutes Fünftel der 15-Jährigen in Österreich lässt am Ende von neun Jahren Schulpflicht derart gravierende Mängel erkennen, dass sie der Pisa-Test als Risikoschüler einstuft. "Ja, wir haben ein Problem", sagt Mario Steiner und findet es gut, dass die angehende Regierung die Lösung zum zentralen Ziel erkoren hat. Doch den konkreten Weg, den ÖVP und FPÖ einschlagen wollen, hält der Experte vom Institut für Höhere Studien für falsch: "Da droht mehr vom Gleichen mit dem Geist von Law and Order."

Steiner meint damit das Herzstück der am Dienstag vorgestellten türkis-blauen Bildungspläne. Eine "Bildungspflicht" soll das fruchtlose Absitzen der Schulzeit verhindern: Wer am Ende der neun Jahre immer noch nicht ordentlich lesen, schreiben und rechnen kann, müsse so lange "im Schulsystem" verbleiben, bis diverse "Kernkompetenzen" sitzen.

Weitere Jahre more of the same

"Wenn es Schüler in neun Jahren nicht geschafft haben, bringt es nichts, diesen noch weitere Jahre 'more of the same' aufzuzwingen", wendet Steiner ein. Erfolg werde sich nicht durch eine Pflicht einstellen, sondern dann, wenn die Jugendlichen motiviert seien und endlich einen Sinn in der Schule sähen: "Dafür muss der Unterricht vom theresianischen Fließbandsystem wegkommen, das den Schülern alle 50 Minuten etwas Neues einimpft. Doch da findet sich im Koalitionsprogramm überhaupt kein Ansatz."

Die Politik sei da schon weiter gewesen, befindet der Kritiker und verweist auf die von der alten rot-schwarzen Regierung beschlossene Ausbildungspflicht bis 18 Jahre. Diese setzt auch auf Angebote abseits der Schulen, die stärker auf die individuellen Bedürfnisse eingingen. Werde diese Pflicht nun in die klassische Schule verlagert, fürchtet er, "droht viel von den innovativen Möglichkeiten verlorenzugehen".

Auch Christa Koenne lobt das Anliegen hinter der Bildungspflicht, zweifelt aber ebenfalls daran, "dass es immer die Schule sein muss. Es gibt ja Jugendliche, die sind auf die Art des Umgangs dort regelrecht allergisch." Ein "Raus aus den Ghettoschulen" fordert Koenne: In Berlin etwa, um nur ein originelles Projekt zu nennen, würden Schüler für zwei Wochen auf einen Bauernhof geschickt. Hinterher werde das Erlebte dann in den verschiedenen Fächern – von Mathematik bis Naturwissenschaft – abgearbeitet.

Nicht endlos wiederholen

Auch hierzulande sei nicht daran gedacht, Schüler "endlos wiederholen zu lassen", versichert FPÖ-Bildungssprecher und Koalitionsverhandler Wendelin Mölzer. So brauche es etwa spezielle Förderklassen und individuelle Angebote – und die Ausbildungspflicht solle nicht abgeschafft, sondern ergänzt werden.

Konkret ausverhandelt ist all das noch nicht. Heidi Schrodt sieht deshalb "zu viele Fragezeichen", um die Bildungspflicht zu beurteilen; den Grundgedanken hält sie allemal für positiv. "Schrecklich" nennt die Ex-Schuldirektorin, die sich seit Jahren für Bildungsreformen einsetzt, aber eine im Pakt verpackte Drohung an Eltern: Wer "Aufgaben und Pflichten" missachte, dem blühen "Sanktionen bei Sozial- und Transferleistungen". Ein denkbares Beispiel laut Verhandlern: Lässt sich ein Vater oder eine Mutter partout nicht in der Schule anschauen, was Lehrer immer wieder erlebten, könne etwa die Familienbeihilfe gekürzt werden – "im Extremfall", wie Mölzer sagt.

Ein paar Erziehungsberechtigte mehr ließen sich so wohl schon zu Sprechtagen bringen, glaubt Schrodt, "doch wirklich interessieren werden sie sich dann genauso wenig wie vorher". Um das zu ändern, müsse man sich den Gründen hinter dem Problem widmen. Meist seien es Eltern aus dem migrantischen Milieu, die den Besuch in der Schule meiden, sagt Schrodt: "Weil sie nichts verstehen, scheu sind, die Arbeitsverhältnisse es nicht erlauben oder es in der Kultur im Herkunftsland undenkbar ist, einen Lehrer überhaupt zu hinterfragen."

Lob für Kindergartenpläne

Skeptisch zeigen sich auch die anderen Experten. In manchen Fällen könnten Sanktionen schon wirken, sagt Koenne, doch gleichzeitig brauche es mehr Unterstützung – etwa durch "fliegende Teams", die Eltern aus "bildungsfernen Schichten" aktiv einzubinden versuchen. Ähnlich Steiner: Viele der Eltern hätten selbst schlechte Schulerfahrungen gemacht; wenn Direktoren dann wieder mit Strafen drohten, komme nie ein Dialog auf Augenhöhe zustande.

Bei aller Kritik: Manches im türkis-blauen Pakt verdient in den Augen der Experten auch Lob. An erster Stelle nennen sie den Plan, die Uni-Ausbildung für Kindergartenpädagoginnen zu fördern. Das sei ein wichtiger Schritt, so Steiner, um aus Kindergärten "noch mehr echte Bildungseinrichtungen statt Aufbewahrungsstätten" zu machen. (Gerald John, 29.11.2017)