Vor vier Jahren startete der amerikanische Softwareentwickler Rob Rhinehart einen Selbstversuch. Weil ihm die tägliche Essenszubereitung zu mühselig und teuer war, recherchierte er Nährwerttabellen und kaufte Inhaltsstoffe zusammen, aus denen er ein Pulver mixte, das für ihn einen Monat lang alle Mahlzeiten ersetzen sollte. Das Experiment dokumentierte er – inklusive Arztbefunde – in einem Blogbeitrag.

Der Text fand viel Beachtung und Rhinehart machte aus seiner persönlichen Mission ein kommerzielles Unterfangen. Er startete eine Crowdfunding-Kampagne für seine Erfindung, die er "Soylent" genannt hatte. Eine gewagte Anspielung an den Film "Soylent Green", einer Dystopie in dem ein Konzern die in die Ökokatastrophe geschlitterte Menschheit mit einem gleichnamigen Nahrungsmittel versorgt, in das jedoch (Achtung, Spoiler!) ohne Wissen der Konsumenten menschliche Leichen verarbeitet sind.

Der "Complete Food"-Hype begann mit Rob Rhineharts Pulver-Experiment namens "Soylent".
Foto: derStandard.at/Pichler

Pulver anrühren statt Essen kochen

Ursprünglich wollte Rhinehart 100.000 Dollar einnehmen, um die Entwicklung seines Pulvers anzukurbeln und in die Massenfertigung zu bringen. Einnehmen konnte er dank des Hypes deutlich mehr, nämlich rund drei Millionen Dollar. Im Frühjahr 2014 wurden nach einigen Anlaufschwierigkeiten die ersten Lieferungen an Unterstützer verschickt.

Private Kapitalgeber fanden Interesse, 2015 wurde man bereits auf einen Marktwert von 100 Millionen Dollar geschätzt und startete in großem Stil durch. Seitdem ging es stetig aufwärts, doch auch Rückschläge gab es. Infolge von Kundenbeschwerden über Geschmack oder Übelkeit wurde die Rezeptur öfters angepasst. Nichtsdestotrotz steuerten erst im vergangenen Mai die Kapitalgeber 50 Millionen Dollar bei.

Dutzende Produkte erhältlich

Heute ist Soylent längst nicht mehr der einzige Player auf dem Markt für "Complete Food". Zahlreiche Firmen locken nun, oft mit groß angelegten Online-Werbekampagnen, mit ihren eigenen Adaptionen für schnelle Komplettmahlzeiten. In Europa profitiert man davon, dass Soylent den "alten Kontinent" bisher gar nicht erschlossen hat, sondern sich ausschließlich auf die USA und Kanada beschränkt. Wer das "Original" möchte, muss auf Importhändler zurückgreifen.

Die Vielfalt an Anbietern ist mittlerweile so groß, dass das Online-Magazin T3n vergangenes Jahr gleich zwölf europäische Produkte zum Vergleichstest antreten ließ. Nano, Veetal, Huel, Compleat, Mana, Joylent, Jake, Bertrand, Ambronite – es mangelt nicht an originellen Namen. Der Hype verbreitet sich vor allem über das Internet. Werbung auf Facebook, Instagram und anderen sozialen Plattformen ist allgegenwärtig. Und der Markt ist weiter gewachsen. Vor wenigen Monaten hat auch ein österreichischer Hersteller mit der Auslieferung seines Produktes begonnen: Saturo.

Markt mit hohem Potenzial

Dort hat Gründer Hannes Feistenauer 2013 ein eigenes Pulver entwickelt, 2015 begann er, daraus ein Fertiggetränk zu konzeptionieren. Das Start-up, dessen Produkt und Name auf italienisch schlicht "gesättigt" bedeutet, ist im März diesen Jahres offiziell in Betrieb gegangen. "Ich bin sicher, dass wir eines der am schnellsten wachsenden Unternehmen in Österreich sind", sagt er selbstbewusst im Gespräch mit dem STANDARD. Man habe "ein paar Monate" gebraucht, um einen sechsstelligen Gesamtumsatz zu erreichen. Mittlerweile steuere man schon darauf zu, monatlich Einnahmen dieser Größenordnung zu erzielen.

Marktpionier Soylent gibt es mittlerweile als Pulver, Fertigmischung in der Flasche und als Snackriegel.

Viele Zahlen zum Complete-Food-Markt gibt es noch nicht. Im Februar 2015 schätzte das Unternehmen Keto One, selbst ein Anbieter eines Pulvernahrungsproduktes, das noch junge Segment auf ein Gesamtvolumen von 30 Millionen Dollar. Ein Jahr später bezifferte man den Markt bereits mit 80 bis 110 Millionen Dollar – mit einem Zukunftspotenzial von über sieben Milliarden Dollar. 200.000 Personen dürften mittlerweile regelmäßig auf Komplettnahrung zurückgreifen.

Feistenauer geht mittlerweile davon aus, dass alleine der US-Markt im dreistelligen Millionenbereich liegt. Europa, das hier zeitlich im Hintertreffen liegt, rangiert seiner Einschätzung nach noch klar in der Zweistelligkeit.

Die Zukunft liegt in der Flasche

Für ihn erwies sich jedoch die Pulvervariante als zu unpraktisch. Denn auch hier bleibt Zubereitung nicht erspart, man hat mit Problemen wie Klumpenbildung zu kämpfen und auch das Geschmackserlebnis sei nicht optimal. Daher entwickelten er und sein Team Saturo schließlich in vorgemischter Form, die trinkfertig in Flaschen ausgeliefert wird und gehört in Europa damit zu den ersten Anbietern einer solchen Lösung.

Er sieht darin auch die Zukunft des Marktes. Soylent bietet mittlerweile ebenfalls ein Ready-to-drink-Produkt an, das schon mehr Nachfrage erhalten soll als die ursprüngliche Variante. Complete Food in Pulverform, so prognostiziert Feistenauer, wird künftig zu einer Nische für den Sport- und Reisebedarf werden.

Drei Stunden satt

Ausgeliefert wird der Nahrungsdrink in Flaschen zu je 500 Milliliter und einem Nährwert von 500 Kilokalorien. Vier Flaschen sollen in etwa den Tagesbedarf aller vom Körper benötigten Vitamine, Ballaststoffe und Mineralien abdecken. Es gibt eine neutrale Geschmacksrichtung, seine Sorte mit Kakaogeschmack sowie eine koffeinhaltige Kaffeevariante. Man verspricht, dass eine Portion für drei bis vier Stunden sättigt, ohne dass Verdauungsmüdigkeit eintritt. Eine Angabe, die der Autor nach einigen Tagen Selbstversuch prinzipiell bestätigen kann.

Auch Saturo wird primär über Online-Werbung vermarktet. Relevant ist hier etwa Facebook, aber auch andere Plattformen sind nicht zu unterschätzen. Besonders in der Anfangszeit soll etwa die Forencommunity Reddit sehr wichtig gewesen sein, um die Trinknahrung bekannt zu machen. Dazu erfreut man sich steigenden Interesses der Medien – zuletzt etwa im Rahmen der von 3sat ausgestrahlten TV-Dokumentation "Unsere Zukunft".

Aus deutschen Landen

Vegan, aber in Kunststoff verpackt

Auf Reddit und anderen Plattformen findet sich aber auch Kritik. Saturo wirbt unter anderem damit, viele Zutaten aus nachhaltiger Erzeugung zu verwenden. Abgefüllt wird in Österreich, auch ein Teil der Inhaltsstoffe wird in der Alpenrepublik eingekauft. Da rein pflanzliche Zutaten verwendet werden, können auch Vegetarier und Veganer zugreifen.

Dem gegenüber, so die Skeptiker, steht jedoch die Verwendung von Kunststoffflaschen. "Ich kann diese Bedenken nachvollziehen", sagt Feistenauer, selbst studierter Ingenier, dazu. Doch um angemessene Haltbarkeit zu garantieren, müsse man das Getränk vor Licht und Sauerstoff schützen. Für Glasflaschen würde dies eine Zusatzfolie erfordern, dazu wäre der Transport komplizierter und teurer. Tetrapaks wiederum würden aus mehreren Schichten bestehen, ebenfalls Kunststoff enthalten und seien von ihrer Ökobilanz her schlechter als ihr Ruf.

Es handle sich um die praktikabelste Lösung, erklärt Feistenauer. Alternativen, wie etwa Verpackungsmaterial aus Mais, sind seiner Ansicht nach technisch noch nicht gut genug ausgereift. Dazu helfe die Wahl einer Flasche mit Standardmaßen, das Preisniveau zu wahren, hier würden kleine Änderungen schon teuer zu Buche schlagen. Trotz des Plastiks sei die Ökobilanz von Saturo dennoch sehr gut. In Sachen CO2-Entstehung, Wasser- und Landverbrauch bilanziere man als veganes und ungekühlt lagerbares Produkt viel besser als herkömmliches Essen.

Vom Onlineshop ins Billa-Regal

Derweil hegt man bei der Produktpalette bereits Erweiterungspläne. In absehbarer Zeit soll das Sortiment um neue Geschmacksrichtungen ausgeweitet werden. Mitte 2018 soll Saturo dann auch in Form von Riegeln zu haben sein. Eine Einführung von Saturo in Pulverform will man noch evaluieren, denn hier gibt es bereits viel Konkurrenz.

Man beginnt bereits damit, das trinkbare Essen in Snack-Automaten anzubieten. Man geht davon aus, dass etwa an Bahnhöfen neben Schokoriegeln, Mineralwasser und Chips künftig auch Complete Food im Angebot sein wird. Auch den Einzug in Tankstellenshops und Supermärkte betrachtet man als logische Entwicklung.

Als nächsten großen Schritt des Marktes nach der breitflächigen Etablierung von Ready-to-Drink-Lösungen sieht man die Individualisierung der Produkte. Kunden werden dann bei der Online-Bestellung nicht mehr nur die Wahl zwischen mehreren Geschmacksvarianten haben, sondern auch die weitere Zusammensetzung konfigurieren können. Kraftsportler können sich dann etwa Drinks und Riegel mit weniger Kohlenhydraten und mehr Proteinen bestellen.

Kein Traum von "Reichtum und Insel"

"Ein Start-up soll sich am Anfang gar nicht rentieren", entgegnet Feistenauer auf die Frage, ob Saturo mit seinen Produkten bereits Gewinne erzielt. Man verkaufe die Trinknahrung zwar mit Marge, der Fokus liegt jedoch auf Wachstum. Das sei auch die Anforderung der Investoren, zumal der Markt derzeit "explodiert". Man beobachtet derzeit ein jährliches Wachstum um den Faktor 3. Mit im Boot ist auch das Austria Wirtschaftsservice (aws), die Saturo mit einer "gut sechsstelligen" Summe gefördert hat. Generell zeigt man sich mit dem Standort Österreich zufrieden.

Das Unternehmen sei nicht darauf ausgerichtet, verkauft zu werden, sagt Feistenauer. Würde ein Nahrungsmittelriese wie Coca Cola oder Mars Foods anklopfen, würde man ein lukratives Angebot überdenken, derlei Träume von "Reichtum und Insel" seien zwar verlockend, man bleibe aber lieber "auf dem Boden der Tatsachen".

Die Arbeit an einem jungen Start-up erfordere viel Zeit und Arbeit. Im Schnitt schlafe er derzeit etwa vier Stunden pro Tag, da viel wichtige Arbeit an wenigen Personen hänge. Privatleben und Beruf seien schwer zu trennen, denn es gebe immer wieder dringende Mails zu beantworten oder anderes zu tun.

Mit Saturo mischt seit diesem Jahr auch ein österreichischer Anbieter mit.
Foto: derStandard.at/Pichler

Gesundheit: Langzeitdaten fehlen

Der Boom im Complete Food-Markt wirft auch gesundheitliche Fragen auf. Wenngleich Soylent einst mit der Vorgabe entwickelt wurde, ein kompletter Ersatz für Essen zu sein, empfiehlt heute praktisch kein Anbieter, ausschließlich das eigene Produkt zu konsumieren. Auch bei Saturo ist das nicht der Anspruch. Die Zielgruppe seien etwa Menschen, die etwa aus Zeitmangel sonst Mahlzeiten auslassen oder zu ungesundem Fastfood greifen. "Es ist möglich, man kann sich davon vollwertig ernähren", heißt es von Seiten Saturo. Als Ersatz für ein kulinarisches Erlebnis sei es aber nicht gedacht.

Langfristige Erkenntnisse zur regelmäßigen Ernährung mit Trinkessen fehlen bislang, denn die meisten Hersteller sind kaum länger als ein Jahr im Geschäft. Auch zum Marktprimus Soylent fehlen noch entsprechende Daten. Das 30-Tage-Experiment von Rob Rhinehart wurde aber mittlerweile von mehreren Journalisten und auch anderen Leuten wiederholt – zu groben Gesundheitsproblemen scheint es bislang noch nicht gekommen zu sein.

Auch ein "Vice"-Journalist hat einen Selbstversuch durchgeführt und sich 30 Tage nur von Soylent ernährt.
Motherboard

Skeptisch sind Wissenschaftler vor allem bezüglich des Nutzens und der Langzeitwirkung zugesetzter Vitamine. Helfen würden diese im Wesentlichen nur, wenn ein Mangel besteht. Dauerhaft überhöhte Zufuhr könnte sich sogar schädlich auswirken. Auch wenn die Mahlzeit aus der Flasche wahrscheinlich gesünder ist als Pizza oder Pommes, ist also auch hier maßvoller Genuss anzuraten. (Georg Pichler, 30.11.2017)