Die Obstdiebin kommt auch leicht, "einfach so", von ihrem Vater los, der für sie die maßgebliche Instanz in der Familie ist. Aber wie dieses "einfach so" erzählt wird, ist ein Kunststück für sich.

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Einen Monat vor seinem 75. Geburtstag am 6. Dezember ist Peter Handkes Erzählung Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere erschienen. Eine durch mehr als ein halbes Jahrhundert fortgesetzte, von Brüchen und Krisen gezeichnete schriftstellerische Arbeit steht hinter diesem Buch. Viele Motive und sprachliche Formen sind früher schon einmal vorgekommen, und doch zeigt wie noch jedes Mal das bisher letzte Werk etwas unverwechselbar Neues.

In der Obstdiebin findet man eine bis dahin nie dagewesene erzählerische Phänomenologie des alten Menschen, die im Widerspruch steht zu den gängigen Bildern von alten Leuten. Die sprachliche Physiognomie des immer weiter sich verirrenden alten Menschen, des Vaters der Obstdiebin, bewahrt sich das Aufbegehren und Sich-nicht-Fügen von Handkes Schreiben von Beginn an. Aber was wäre dieses Autor-Ich ohne die junge Obstdiebin, die die jugendliche Kraft des Poetischen verkörpert. Es ist ein anderes Jungsein als das verordnete "Jungwerden" und "Jungtun": "Jung war allein die, um die es hier sich dreht, die Obstdiebin, blutjung."

"Ein letztes Mal."

Das Ereignis dieses neuesten Buchs, so verschroben oder schräg sich die Eingangspassagen lesen, so großartig irr sich die geradezu sprachexperimentelle Szene vom "Bienenstich" in den nackten Fuß des Ich-Erzählers am "Stichtag" seines Aufbruchs ausnimmt, das Ereignis ist der junge Mensch, die Obstdiebin, die Tochter des alten Mannes. Er, ihr Vater, nimmt Abschied von Haus und Garten, um "ins Landesinnere" aufzubrechen – "einfache Fahrt" – und um sie, die ihm verlorengegangene Vagantin, noch einmal, endlich, "als Person", "zu Gesicht" zu bekommen. Er weiß, dass sie ihn noch einmal "auf die Sprünge" bringen wird. "Ein letztes Mal."

Die Obstdiebin könnte man im bisherigen Werk Peter Handkes neben die großen, mehr als fünfhundertseitigen epischen Erzählwerke seit Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) stellen. In Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos (2002) ist bereits von einem Erzählvorhaben mit dem Titel Die Obstdiebin die Rede. Das jetzt vorliegende Buch stellt sogar eine Art Fortsetzung von Der Bildverlust dar. Die erzählten Figuren aus dem früheren Roman, Vater, Mutter, Schwester und Bruder – der am wenigsten -, sind noch immer unterwegs, jetzt aber in der Landschaft nördlich von Paris, in der Picardie, dem "inneren Land" Frankreichs.

"Sie wünschte, es wäre ihre letzte Reise", das war der erste Satz über die Mutter in Der Bildverlust. Fünfzehn Jahre später wird das Motiv der letzten Reise mit einem anderen Bedeutungsakzent weitergeführt in den Todesahnungen des Vaters, wenn er aufbricht, um seine Tochter zu suchen. Aufbruch und Suche gehören zu den Narrativen der mittelalterlichen Versepen. Nicht erst in der Obstdiebin bezieht sich Handke auf Wolfram von Eschenbachs Epen. Das dem Buch vorangestellte Wolfram-Motto klingt hier wie ein letzter Wunsch: einmal noch einen lichten Sommer in nie dagewesener Farbe sehen – "Man gesach den liehten summer / in sô maniger varwe nie". Das Zitat stammt aus Wolframs Willehalm, jenem mittelalterlichen Epos, das wie kein anderes die utopische Idee einer verständnisvollen, friedlichen Beziehung mit den Muslimen enthält.

Möglichkeiten des Lesens

Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere ist durch ein Netz von literarischen Querverbindungen mit dem bisherigen Werk Peter Handkes verflochten. Muss man dieses kennen, um das Buch verstehen zu können? Nein, warum sollte man denn Bücher nur mit dem Blick auf die neuen Varianten früherer Motive lesen.

Eine zwanzigjährige Leserin würde sich vielleicht sofort in der Gestalt der Alexia wiederfinden. Auch wenn sie ein solches Erzählen noch nie zuvor kennengelernt hat, könnte sie sich beim Lesen in ihren Gefühlen, in ihrem Blick auf die Welt, in ihrem Hinaussehnen und Hinauswollen von der Obstdiebin angesprochen und mit ihren heimlichen Wünschen anerkannt fühlen. Und es würde dieser jungen Handke-Leserin auch zauberhaft erscheinen, dass mitten in der heutigen Welt eine verborgene, "heimliche" andere Welt zu entdecken ist, die auf ihr – und unser aller – jugendliches Sichhinauswünschen antwortet. "Werde ich überhaupt, Rock, Rap und Heimliches hin oder her, her oder hin, bis an mein Ende allein bleiben? Statt zu leben, das große Leben, friedlich miteinander dank des Heimlichen, wie gestern und heute und so weiter, nichts als überleben, ein Tag nach dem andern, wie im Krieg?" Und wahrscheinlich würde dieser unvoreingenommenen Leserin auch das Drehen und Wenden der Wörter und Worte einer Sprache gefallen, die sich nicht ins "Jetzt" des Bestehenden zu fügen bereit ist: "'Jetzt ist jetzt' konnte auch ganz anderes bedeuten, und 'einst' mußte nicht 'vergangen' sein."

Und wenn die jugendliche Handke-Leserin manchmal ein paar Seiten überschlägt, besonders wenn der Vater der Obstdiebin in seine Tiraden über den Zustand der Welt verfällt, würde es ihr der Autor nachsehen, weil er selber eine Vorliebe hat für Bücher, in denen der Wind blättern kann (Gerhard Amanshauser) und weil sein Buch auch so geschrieben ist, dass man leicht an einer anderen Stelle in dem 559 Seiten dicken Buch weiterlesen kann. Einmal, als Handke bei der Feier zu seinem 70. Geburtstag im Salzburger Festspielhaus etwas aus seinem eigenen Werk hätte vorlesen sollen, nahm er Gerhards Amanshausers Terrassenbuch aus der Rocktasche und las daraus vor und erinnerte damit an das Gespräch, das die Bücher untereinander führen, oft ohne, dass es ihre Autoren wissen.

"O Jugend, o verjüngte Welt"

Die Erzählung von Alexia, der Obstdiebin, und von Valter, das ist der zwanzigjährige Pizzalieferant, der mit ihr durch die Landschaft zieht, hat etwas Kindlich-Jugendliches, wie man es im Werk Handkes bisher kaum findet, obwohl Kinder und Jugendliche bei ihm doch eine alles andere als marginale Rolle spielen. "O Jugend, o verjüngte Welt", dieser aus einer früheren Erzählung aufgenommene Ausruf könnte über der Geschichte der beiden jungen Menschen stehen. Nie vorher hat Handke so ausführlich die Schönheit und Weisheit heutiger junger Menschen erzählt und ihnen den offenen Blick für die Welt und ihre Abgründe, den Forschergeist und den Sinn für die Landschaft und ihre Geschichte geschenkt. Und die Klage um den Verlust des Obstdiebestums am Ende der Erzählung klingt wie der Verlust der Jugendträume.

Die Obstdiebin ist eine verhaltene, moderne Bildungsgeschichte, die Geschichte von der Bildung eines freien, fantasievollen Ich in einer Welt, die es nicht gut mit den jungen Menschen meint. Ohne große Worte geht es in der Erzählung um die Fähigkeit, von seinem Herkommen, von den Vätern und Müttern frei zu werden, aber so, dass das, was sie einem mitgegeben haben, verwandelt wird, wie überhaupt die Fähigkeit zur Verwandlung und zum Umwenden einer der Grundantriebe von Handkes Erzählen ist.

Die Obstdiebin kommt auch leicht, "einfach so", von ihrem Vater los, der für sie die maßgebliche Instanz in der Familie ist. Aber wie dieses "einfach so" erzählt wird, ist ein Kunststück für sich: "Sie hatte es immer eilig gehabt, nach einer Stunde mit dem Vater von ihm wegzukommen. Zurück zu seinem Amateurhistoriker- und -geographentum, an seine homerische Sprudelquelle, oder sonst wohin." Sie sah ihn auch als den Gorilla, "le gorille", im Sinne von "Leibwächter" in alten französischen Filmen: "Als sie andererseits einmal seine Hände als die eines Gorillas bezeichnete, und er sie fragte, was sie damit meine, hatte sie das wortwörtlich so gemeint-gesehen: seine Hände als die eines Menschenaffen, und ungefragt setzte sie dazu: 'Schön!'"

Griff nach der verbotenen Frucht

"Obstdiebin" sein, das ist in dieser Erzählung eine Lebensform, in der alles angelegt ist, was Handkes Poetik des Erzählens ausmacht. Es geht um den Kunstgriff, mit dem heimlich und voll Anmut die Frucht vom Baum gelöst wird. Im Griff nach dem Apfel, der verbotenen Frucht, klingt die biblische Erzählung vom Sündenfall im Paradiesgarten an, dem wir das Erkennwollen und Erforschen und Entdecken der Welt verdanken. Der Erzähler setzt diesen Kunstgriff mit den verschiedensten Formen der schönen Künste in Beziehung, vor allem mit dem Schreiben, dem Tanz und der Notenschrift. In der Erzählung von Alexias Apfeldiebestum lernen wir auch verstehen, dass die Kunst ein soziales Ereignis ist. Einmal war sie als Mädchen in einen fremden Garten eingestiegen. Der Besitzer, der Zeuge des Diebstahls wurde, rief sie mit "He, Obstdiebin!" an. Damals hatte sie ihren Namen erhalten. Aber für sie, "das Kind ebenso wie später für die junge Frau", hatte "etwas mitgehen lassen" eine "grundandere Bedeutung als die übliche". Und sogar in der Erzählung des Besitzers des Gartens erscheint diese "grundandere Bedeutung" auf eine Weise, als würde er von der befreienden humanen Wirkung eines Kunstwerks sprechen: "Zuerst unwillkürlich von seinem Tisch aufgesprungen, hielt er dann inne und nahm Platz am Fenster, um besser sehen zu können. (...) Er, gerade noch finster in sich hineingrübelnd, wurde, als das kleine Mädchen die zuvor halb versteckte Frucht aus der Laubkrone heraus ans Licht drehte, mit einmal vergnügt und hörte in dem Zimmer, dem einzigen in dem Haus, jemanden lachen: der da lachte, war er selber." Ohne es zu wissen, weiß er, dass im Kunsterlebnis das Ich sich als ein anderer bewusst wird (Arthur Rimbaud).

Die Wege und Straßen durch die Felder des Vexin in der Picardie führen über Schlachtfelder des Zweiten Weltkriegs. Noch immer sind Gegenstände aus dieser Zeit zu finden, noch heute irrt ein alter Mann auf der Suche nach den Knochen seines Ahnherrn durch die Felder. Die Bombentrichter in der Landschaft noch immer zu erkennen. Das Motto aus dem Roman Der Bildverlust, ein mehrdeutiger antiker Orakelspruch, den Handke schon seinem ersten Roman, Die Hornissen (1966), vorangestellt hat, wird auch in der Erzählung von der Obstdiebin zitiert, auch hier in einer neuen Version: "Zurückkehren wirst du – nicht sterben im Krieg; zurückkehren freilich wer weiß wohin."

Aus Kriegen herauskommen

Wie ein Flüchtling erscheint die Tochter dem Vater, der sie vom Zug aus über die Felder ziehen sieht, für ihn zuerst eine Unbekannte. Bevor sie ausgestiegen war, hatte er zuerst "bloß ein Kleiderbündel" gesehen, "vergessen, absichtlich liegengelassen, weggeworfen?". Dann sah er sie und erkannte ihr Gesicht – und erkannte es nicht, weil "sie es auf keinen Fall sein konnte".

Immer wieder kann der Blick umspringen zu den Bildern der Gewaltgeschichte. Von einer solchen Unsicherheit und Unzuverlässigkeit unserer Wahrnehmung spricht auch die uralte Legende von "Alexius, der nach Jahren in der Fremde bettelnd heimkehrt ins Elternhaus, unerkannt von den Seinen, und da in einem Verschlag unter der Treppe haust als Namenloser". In einem "Kämmerchen unter der Treppe" übernachtete Alexia in der "Herberge im Landesinnern". Einmal wendet sich der Blick den ganz anderen Heimlichkeiten solcher Räume zu, wenn nach einer "Forschungsreise zu sämtlichen Untertreppenbehausungen" gefragt wird und der Erzähler weiter fragt, "was zu erforschen" wäre "in den Verschlägen, den einstigen Schlafstätten, Besenkammern, Verstecken für Deserteure und Résistancekämpfer, Arrest-Zellen zum Wegsperren ungestümer Kinder, Todeszellen für die bei Morgengrauen Hinzurichtenden? Zu erforschen was auch immer. Zu forschen, angesichts all dieser Untertreppenhöhlen, nachzuforschen insbesondere in sich selber."

Eine solche Erforschung eines Orts von Krieg und Tod stand am Beginn von Handkes Erzählen. "Als ich erstmals in meinem Leben einen Ort ausfindig machte – die unterirdischen ehemaligen Bunker, versteckt im hohen Gras und Gebüsch, an der Mur südlich von Graz im Mai 1963 -, entstand meine erste Erzählung." Sie trägt den Titel Über den Tod eines Fremden (1963). (Hans Höller, Album, 2.12.2017)