Hans Kohlseisen: "Als 14-Jähriger musste ich Weihnachten allein verbringen."

Foto: Robert Newald

Margarete Affenzeller, Gabriele Anderl (Hgg.): "Und ich reise noch immer". Mandelbaum 2015, 142 Seiten, 16,90 Euro

Cover: Mandelbaum

STANDARD: Einer Ihrer zwei Brüder wurde von den Nazis in Serbien erschossen, der andere trug vom jahrelangen Leben im belgischen Untergrund psychische Schäden davon, Sie selbst waren gezwungen, die Teenagerjahre ohne Familie in Irland zu verbringen. Bekommen Sie manchmal Post vom Staat, etwa Einladungen zu Gedenkveranstaltungen, als entschuldigende Anerkennung Ihrer traurigen Familiengeschichte?

Hans Kohlseisen: Post? Nein, nein. Ich ließ mich gleich von der Opferliste streichen. Diesen Gefallen, mich auch noch Opfer nennen zu können, wollte ich den Nazis nicht tun.

STANDARD: Viele haben den letzten Zeitpunkt der Flucht verabsäumt. Wie und wann hat Ihre Familie entschieden, Sie, den jüngsten Spross, allein loszuschicken?

Kohlseisen: Da wir schon in Gmünd so schlecht behandelt worden waren, war meiner Mutter klar, dass wir fortmussten. Als das sogenannte Umschulungslager in Stadlau aufgelöst wurde, in dem wir uns damals aufhielten, hat sie mich für den Kindertransport angemeldet. Am 10. 12. 1938 um zehn Uhr abends fuhr der Zug am Westbahnhof los.

STANDARD: Was hat Ihnen Ihre Mutter beim Abschied gesagt?

Kohlseisen: Meine Eltern haben mir gesagt, dass sie bald nachkommen werden. Das war sogar die offizielle Ansage, war aber eine Lüge. Ich bekam die Nummer 555.

STANDARD: Hatten Sie als 13-Jähriger eine Vorstellung von England?

Kohlseisen: Ich hatte Schulwissen, aber ich wusste nicht, was passieren wird. Es war furchtbar.

STANDARD: Was konnten Sie mitnehmen? Spielsachen?

Kohlseisen: Eine Mundharmonika, mehr nicht. Schlimm war das mit der Jause. Meine Mutter hatte mir ein Jausenbrot eingepackt. Trotz des großen Hungers konnte ich das Brot aber nicht essen. Es war das Letzte, was meine Mutter in Händen hatte, es war mir heilig.

STANDARD: Wann war Ihnen klar, dass die Eltern nicht kommen?

Kohlseisen: Ziemlich bald, Kinder spüren das. Spätestens als wir in immer kleinere Gruppen aufgeteilt wurden, wusste ich, da kommt keiner mehr. In Lowestoft, einer unserer ersten Herbergsstationen, kam es zu Prügeleien, weil deutsche Kinder zu uns stießen. Wir dachten natürlich, deutsch ist gleich Nazi und haben sie sofort attackiert. Unter ihnen war übrigens ein Bursche namens Heinz Kissinger (der spätere US-Außenminister Henry Kissinger, Anm.). Ich habe mir einen extragroßen Burschen vorgeknöpft, der hätte mich dann fast erwürgt.

STANDARD: Warum sind Sie weiter nach Irland gelangt?

Kohlseisen: Eher Zufall. Der Pfarrer einer abgelegenen Pfarrei in der Grafschaft Roscommon suchte einen kostenlosen Laufburschen. Er war, wie sich später herausstellte, alkoholkrank und brauchte jemanden, der ihm seinen Whiskey aus unterschiedlichen Ortschaften brachte, sodass der immense Konsum nicht auffiel. Ich wurde Knecht, habe Felder händisch umgeackert und Kartoffel gesetzt, Kühe gemolken usw. Er starb bald, dann war ich im Haus ganz allein. Niemand kümmerte sich um mich. Als 14-Jähriger verbrachte ich Weihnachten völlig allein, und wenn ein Toter in der Kirche aufgebahrt lag, musste ich die Kerzen anzünden. Erst zwei Monate später kam ein Ersatzpfarrer.

STANDARD: Wann haben Sie erfahren, was mit Ihrer Familie ist?

Kohlseisen: Nach einigen Monaten habe ich einen Brief von meinem Vater erhalten. Da wusste ich, dass meine Eltern leben. Er schrieb: "Deiner Mutter geht es gut." Damals wurden ja alle Briefe zensuriert. Mein Vater, er war ja kein Jude, war als Lokomotivführer im Einsatz. Erst später habe ich erfahren, dass meine Mutter bei einem Tiroler Bauern untergetaucht war. Mein Vater hat seinen Briefen Antwortscheine beigelegt, sodass ich kostenfrei antworten konnte. Der Postweg dauerte ewig.

STANDARD: Was haben Sie ihm geschrieben?

Kohlseisen: Ich hab ebenso behauptet, dass es mir gutgehe, damit er sich keine Sorgen macht.

STANDARD: Waren Sie als dann schon 15- oder 16-Jähriger über den Kriegsverlauf informiert?

Kohlseisen: Ja, ich las die Zeitung des Pfarrers, die ich jeden Tag vom Postamt holte. Ich wollte unbedingt zu meiner Familie zurück. In dem irischen Dorf gab es ja auch keine Perspektive. Das hat dann der neue Pfarrer auch kapiert und mich nach Dublin geschickt.

STANDARD: Hatten Sie damals Rachegedanken gegen die Nazis?

Kohlseisen: Und wie! Zum ersten Mal konnte ich mir schon auf der Überfahrt nach Irland Luft verschaffen. Es war ein wunderschöner Junitag, ich stand mit zwei Kindern, die noch jünger waren als ich und auf die ich aufpassen sollte, auf dem Deck der Fähre, als ein Ehepaar an uns vorbeiging. Er sagte: "Überall trifft man diese Saujuden!" Ich ließ die Hände der zwei Knirpse los, rannte los und trat ihm mit aller Kraft ins Schienbein. Es war ein herrliches Gefühl. Er jaulte laut auf. Dieser Schmerzensschrei hat mir gutgetan.

STANDARD: Sie wollten dann nicht mehr nach Wien zurück. Warum?

Kohlseisen: Nach all den Jahren und nachdem ich den irischen Landpfarrern entkommen war, schien mir Dublin ein Paradies zu sein. Dort lebten nette Menschen, ich verdiente in einer Gärtnerei Geld. Und es gab das Kino, Ganztageskino! An meinen freien Tagen ging ich um 10 Uhr rein und am Abend wieder hinaus. In der Pause lief eine Show mit leicht bekleideten Mädchen – der Himmel auf Erden. Später habe ich in Dublin auch meine erste Frau kennengelernt. Wir haben geheiratet und unser erstes Kind bekommen.

STANDARD: Und doch kamen Sie 1949 wieder nach Österreich.

Kohlseisen: Meine Mutter schrieb, sie sei todkrank. Also packten wir unsere Sachen und fuhren auf Besuch. Ihre Mitteilung entsprach nicht ganz der Wahrheit – zum Glück! Für die Rückfahrt fehlte allerdings das Geld, es musste erst verdient werden. Reisen war damals äußerst teuer. Und mit dem Job fassten wir allmählich Fuß.

STANDARD: Wie haben Sie Österreich nach 1945 erlebt? Die Nazis sind ja nicht verschwunden.

Kohlseisen: 1954 habe ich als Vertreter bei der Firma Inku angefangen. Noch im selben Jahr wurde ich, nachdem ich mich in einem Geschäft als Inku-Mitarbeiter vorgestellt hatte, mit folgenden Worten begrüßt: "Was für eine Saujudenfirma ist denn das schon wieder!?" Inku schien dem betreffenden Herrn nichts Österreichisches zu sein. Weil ich drohte, seine Ausfälle zu melden, hat er, feig wie er war, noch in derselben Woche Unmengen von Regenmänteln bei uns in Auftrag gegeben. (Margarete Affenzeller*, 2.12.2017)

*Die Autorin ist, gemeinsam mit Gabriele Anderl, Herausgeberin von Hans Kohlseisens Autobiografie "Und ich reise noch immer". Mandelbaum 2015, 142 Seiten, 16,90 Euro