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Auch wenn die Temperaturen niedriger werden, ist die Erntezeit nicht vorbei. Hagebutten etwa gelten nach dem ersten Frost als geschmackvoller und lassen sich zu Tee, Marmelade oder Mus verarbeiten.

Foto: dpa/Patrick Pleul

Wien – "Ich habe mal bei der Roßauer Lände einen übervollen Baum mit Ringlotten gesehen – klein, orange, übersäht mit Bienen und Wespen und uuurlecker", schreibt Christina. "Wenn man über die Stadionbrücke Richtung Prater geht, vor dem Atominstitut der TU Wien rechts hinein, an der Kleingartensiedlung vorbei, findet man auf der rechten Seite einige Obstbäume", gibt Johanna Auskunft. Beide posten auf fragnebenan.com Tipps zu "Wild ernten in Wien". Da immer mehr Städter Obst und Gemüse selbst ernten und verarbeiten wollen, ist das Thema auf der Plattform für Nachbarschaftshilfe ein sehr aktuelles.

Sammeln in Wien – damit hat Gertrude Henzl Erfahrung. Die Juristin hat vor einigen Jahren ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht. Sie verarbeitet Kräuter, Obst und Gemüse zu Delikatessen und verkauft sie in ihrem Geschäft in der Kettenbrückengasse im vierten Bezirk. Die Rohstoffe wachsen in und um Wien oder von Bauern, und Grundstücksbesitzer stellen sie ihr kostenlos zur Verfügung. In der Früh geht sie in die Natur sammeln, zu Mittag sperrt sie ihr Geschäft auf und beginnt, die Beute zu verkochen, erzählt Henzl dem STANDARD.

Blütenboxen, süß oder salzig

Es entstehen extravagante Variationen, etwa Fruchtmatten aus Maulbeeren oder Kriecherln, Fichtennadel- oder Steinpilzpulver oder essbare Blüten und Blätter. Blütenboxen zu je fünf Euro eignen sich in der gezuckerten Variante für Torten und Desserts, gesalzen zu Käseplatte oder Reisgerichten. Auch bei niedrigen Temperaturen ist die Erntezeit nicht vorbei: Hagebutten etwa gelten nach dem ersten Frost als geschmackvoller.

"Es schmeckt besser"

"Sammeln macht glücklich", ist Henzl überzeugt. Es sei ein "ureigenes Bedürfnis" der Menschen. Bei von ihr geleiteten Wildkräuterwanderungen macht sie die Erfahrung, dass die Teilnehmer nach Zubereitung der Speisen mit selbst Gesammeltem besonders zufrieden sind. "Es schmeckt noch besser, wenn man weiß, woher die Ware kommt."

Dem Sammlerbedürfnis will auch Susanne Staller gerecht werden. Die Gebietsbetreuerin und Landschaftsarchitektin hat den "Naschgarten" im 21. Bezirk initiiert. Das Projekt entstand aus der überbordenden Nachfrage nach Parzellen in Gemeinschaftsgärten. Weil die Wartelisten immer länger werden, wollte Staller umsetzen, was sie schon aus dem deutschen Andernach kannte. Die 30.000-Einwohner-Stadt unweit von Bonn nennt sich "die erste essbare Stadt Deutschlands". Rund 10.000 Quadratmeter der städtischen Grünflächen sind mit Obst und Gemüse bepflanzt, das die Bewohner ernten können.

Schwierige Grundstückssuche

An ein Grundstück zu kommen war in Floridsdorf gar nicht einfach, berichtet Staller. Die MA 49 (Forst- und Landwirtschaftsbetrieb der Stadt) stellte schließlich eine Fläche an der Angyalföldstraße Höhe Hans-Czermak-Gasse zur Verfügung. Früher war dort ein Gemüsefeld, rundherum entstehen Wohnbauten. 2015 wurden erste Bäume gesetzt. Beim gemeinsamen Pflanzen, Ernten und Verarbeiten der Lebensmittel werden Erfahrungen und Wissen ausgetauscht.

Warum Garteln im öffentlichen Raum boomt? Staller geht es ums "Gefühl von Land in der Stadt". Immer mehr Menschen leben im urbanen Raum. Gänzlich verzichten wolle man dort auf Naturnähe aber nicht. Die "wilde Ernte" in der Stadt komme da gerade recht.

Obstbäume am Steinhof

Neu sind frei zugängliche Obstbäume in der Stadt nicht. Auf den Steinhofgründen im 14. Bezirk oder am Wienerberg im 10. Bezirk wachsen seit mehr als 30 Jahren regionale, alte Sorten, wie ein Mitarbeiter der MA 49 sagt. Am Steinhof sind es etwa 1600 Bäume. Sie seien ein wichtiger Beitrag der MA 49 zur "essbaren Stadt".

Neuerdings prangen dort aber Schilder, die das Sammeln von Wildkräutern verbieten. Da große Mengen Pilze und Wildkräuter gesammelt wurden, seien einige Bestände stark zurückgegangen, lautet die Behördenauskunft. Kräutersammlerin Henzl wurde auch ermahnt. Sie betritt mit ihren Gruppen keine Flächen der MA 49 mehr.

Glücklich ist Henzl darüber nicht. Für sie gehe es um die Frage, inwieweit die Stadt bereit ist, sich aufs "wilde Ernten" einzulassen. Für den Bestand sei auch regelmäßiges und richtiges Ernten wichtig. Also Schulungen für den richtigen Umgang?

Interaktive Seiten und Baumkataster

Die Stadt gibt an, einige Info-Arbeit zu leisten, etwa mit der Infostelle "Garteln in Wien", die sie 2016 mit der Bioforschung Austria eingerichtet hat. Dort werden unter anderem interaktive Seiten wie mundraub.org und fruchtfliege.crowdmap.com vorgestellt, auf denen Bürger Obstbäume einzeichnen können.

Infos zu allen rund 100.000 Bäumen in Wien findet man auch online im Baumkataster der Stadt, der etwa Pflanzjahr, Stammumfang und Kronendurchmesser verrät. Nur die Erntezeit muss der hungrige Wiener noch selbst herausfinden. (Rosa Winkler-Hermaden, 2.12.2017)

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