Auf Noten verzichten zu können, ist pädagogisch sinnvoll. Das "Manifest zur Leistungsbeurteilung" aus dem Jahr 1998 gilt auch 2017 noch.

Foto: apa/harald schneider

Immer wieder flammt(e) die Diskussion über den Sinn oder Unsinn von Noten auf. Wie im STANDARD berichtet, kennt das österreichische Schulsystem seit 418 Jahren Ziffernoten und schon damals gab es Stimmen gegen eine frühzeitige Benotung. Seit einigen Jahren gibt es endlich die Möglichkeit, zumindest in den ersten drei Schulstufen optional auf Noten zu verzichten. Nun aber heißt es, aus rein ideologischen Gründen, wieder zurück an den Start.

Warum der Freiraum, auf Noten verzichten zu können, pädagogisch sinnvoll ist, haben die "Linzer Pädagogen" Ferdinand Eder, Johannes Mayr, Rupert Vierlinger und Lothar Zangerl gemeinsam mit mir im "Manifest zur Leistungsbeurteilung" 1998 dargelegt. Ich zitiere:

"Ziffernnoten sind nicht objektiv
Noten sagen wenig bis gar nichts darüber aus, was jemand wirklich kann und wie gut sich ein Schüler oder eine Schülerin außerhalb der Schule, also im Beruf oder im Leben, bewähren wird. Zu Recht messen daher Firmen, die Lehrlinge einstellen, oder Personalbüros, die Berufstätige vermitteln, den Noten praktisch kaum Bedeutung bei, sondern führen immer wieder eigene Erhebungen und Testungen über die Leistungen ihrer Bewerber durch. Je bedeutsamer die Position ist, um die sich jemand bewirbt, desto geringerer Wert wird den Schulnoten zugeschrieben.
Ziffernnoten haben eine Reihe unerwünschter Nebenwirkungen
Manche Schüler und Schülerinnen lernen nur wegen der Noten. Es geht ihnen nicht darum, etwas wirklich zu können, sondern nur darum, eine gute Note zu erhalten, und sei es durch Schwindeln. Andererseits wird aber auch die Anstrengung, die weniger begabte Schüler und Schülerinnen für die Schule leisten, in der Ziffernnote nicht sichtbar.
Der Zwang, die Schüler und Schülerinnen ständig zu beurteilen, stört die Beziehung der Lehrer und Leherinnen zu den Schülerinnen und Schülern, und sie finden es sehr schwierig oder überhaupt unmöglich, deren Leistungen mit einer einzigen Ziffer gerecht zu beschreiben.
Nicht wenige Lehrer und Lehrerinnen werden aber auch dazu verführt, beim Auftreten von Lernschwierigkeiten nicht ihren Unterricht zu verbessern, sondern einfach den Notendruck auf die Schüler und Schülerinnen zu erhöhen. Entmutigung, Schulangst, Stress und psychosomatische Erkrankungen sind dann die Folgen.
Außerdem vergiften die Noten häufig auch das Klima zwischen Elternhaus und Schule; in manchen Fällen werden sogar die Gerichte befasst.
Es gibt erprobte Alternativen
In den letzten Jahrzehnten sind weltweit effiziente Methoden entwickelt und angewandt worden, wie man die Leistung und die Leistungsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern genauer, nachhaltiger und mit weniger schädlichen Nebenwirkungen dokumentieren kann.

- Die umfassende mündliche Information der Erziehungsberechtigten und des Kindes. Die Grundlage der mündlichen Informationen sind die laufenden Beobachtungen der Lehrer und Lehrerinnen über den jeweiligen Leistungsstand sowie über den individuellen Lernfortschritt.

- Verbale Zeugnisse, in denen die Lehrerin, der Lehrer in höchst individueller Weise auf das einzelne Kind eingehen kann;

- Pensenbücher und Entwicklungsberichte, die eine sorgfältige Auflistung jener Kompetenzen bieten, über die das Kind bereits verfügt;

- direkte Leistungsvorlagen (Portfolios), bei der die Schülerarbeiten in ausgewählten Beispielen vorgelegt werden. Sie ist mit verbaler Beurteilung gekoppelt (Kommentar der Lehrerin, des Lehrers), außerdem können auch Lernziellisten beigefügt werden.

Immer mehr Eltern und Lehrerinnen und Lehrer entscheiden sich für eine Schule ohne Noten
In den letzten Jahren haben viele Lehrerinnen und Lehrer sowie zahlreiche Eltern im Rahmen des Schulversuches "Alternative Formen der Leistungsbeurteilung auf der Grundstufe I der Volksschule und in den Integrationsklassen" auf allen Schulstufen vielfältige Erfahrungen sammeln können.
In Oberösterreich entschieden sich zum Beispiel im Schuljahr 1996/97 bereits 844 Volksschulklassen für eine alternative Beurteilungsform. Rund zwei Drittel davon verzichteten zugunsten einer rein mündlichen (271 Klassen) oder rein schriftlichen Information (246 Klassen) völlig auf Noten.
Zur direkten Leistungsvorlage hat in Wien vor zwei Jahren ein Schulversuch mit neun Klassen begonnen, der sich mittlerweile auf 79 Klassen ausgeweitet hat.
Freie Entscheidungen für Lehrer, Lehrerinnen und Eltern
Wir fordern deshalb die Bildungspolitiker und Bildungspoliterinnen auf, dieser Entscheidung Rechnung zu tragen, und den Lehrern, Lehrerinnen und Eltern die Freiheit zu geben, jene Formen der Leistungsbeurteilung zu wählen, die sie als die optimalste ansehen."

Dem ist 2017 nichts hinzufügen, außer dass heute bereits zwei von drei Schulen alternative Formen der Leistungsbeurteilung einsetzen. Ein pädagogisches Argument, die freie Entscheidungsmöglichkeit der Schulen wieder rückgängig zu machen, ist mir nicht bekannt. (Ewald Feyerer, 1.12.2017)