Seine erste Burgtheater-Inszenierung ist ausgerechnet dem nostalgischen Kakanier Joseph Roth (1894-1939) gewidmet: Johan Simons.

Marcella Ruiz Cruz

STANDARD: Im Mittelpunkt von Joseph Roths Roman "Radetzkymarsch" steht das Geschlecht der von Trotta, die gemeinsam mit der k. u. k. Monarchie zugrunde gehen. Die von Trottas werden wie ihr Kaiser zu Gespenstern. Wie aber inszeniert man Gespenster?

Simons: Im Gegensatz zum Film kannst du im Theater Figuren zeigen, die gleichzeitig leben und tot sind. Wenn jemand auf der Bühne sich hinlegt und behauptet, er sei tot, so kann er in der nächsten Sekunde aufspringen und quietschfidel weiterleben. Diese Form von Akzeptanz kannst du nur auf der Bühne erzielen.

STANDARD: Der Theaterschauspieler als Untoter?

Simons: Für Radetzkymarsch habe ich mich von einem Gedicht der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Wislawa Szymborska inspirieren lassen. Über das Ende einer Vorstellung. Sie ist aus, der Vorhang fällt, doch er geht sofort wieder hoch. Da stehen mit einem Mal die Menschen zum Applaus aufgereiht, die einander in dem Stück geliebt und getötet haben, sie stehen alle zusammen, so wie sie in diesem Spiel des Lebens und Sterbens verwickelt waren. Das wäre meine Sicht auf Radetzkymarsch.

STANDARD: Die Figuren treten aus ihren Rollen heraus?

Simons: Die Frage lautet doch: Ist das Schauspiel eine Lüge oder nicht? Ich mache die Ebene des Schauspiels selbst zum Gegenstand des Spiels. Man kann auf seine eigene Rolle sehr genau schauen. Früher wurde man nach der Lehre von Stanislawski erzogen. Laut dieser muss es für alles, was du tust, eine Logik geben, alles muss organisch sein. Wenn ich aber als Schauspieler auf der Bühne stehe, und ich spiele mit jemandem zusammen, dann gibt es in mir selbst eine Ebene der Reflexion. Ich denke dann: "Ach, diesen Text habe ich jetzt aber übel deklamiert. Beim nächsten Text werde ich versuchen, es besser zu machen ..." Schauspielerei ist ein Versuch. Meine Arbeitsweise besteht in der kollektiven Arbeit. Das heißt nicht, dass ich Entscheidungen auf andere abwälze. Die muss ich als verantwortlicher Regisseur schon selbst treffen.

STANDARD: Aber sie basieren auf den Beiträgen aller?

Simons: Wenn ich in eine Vorstellung hineingehe, muss ich als Zuschauer den Eindruck gewinnen, als ob die Schauspieler das erste Mal in ihrem Leben auf der Bühne stünden. Dieses Gefühl des ersten Males versuche ich meinen Mitwirkenden zu vermitteln. Sie müssen versuchen, aus dem Moment heraus zu existieren. Wenn man einen wirklich guten Schauspieler fragt: Wie häufig in deiner Laufbahn bist du wirklich in einer Rolle aufgegangen, warst du mit ihr im Einklang? So wird dir der Beste sagen: Vielleicht dreimal in meinem Leben!

STANDARD: Besteht Ihre Arbeit auch darin, den Beteiligten alle Ängste zu nehmen? Auf der Probe, wo sie sich ungeschützt preisgeben?

Simons: Angst darf man nicht unterdrücken, man muss sie auf sich nehmen.

STANDARD: Sind die Roth-Figuren nicht ebenso angstgetrieben? Menschen, die ihre exponierte Lage an den Rändern der Monarchie nicht verwinden, die zu Säufern und Spielern werden oder den Antisemitismus erdulden müssen?

Simons: Das Tolle an den Joseph-Roth-Figuren besteht darin, dass sie keine Klugscheißer sind. Sie sind angstbesetzt. Ich glaube auch, dass der Zauber der Uniform im Habsburgerreich eine reine Mogelpackung war. Man war auf den Ersten Weltkrieg nicht im Geringsten vorbereitet. Die k. u. k. Armee war schlicht zu schön für einen regelrechten Krieg.

STANDARD: Können wir aus dem Trauma von 1918 etwas lernen?

Simons: Man beachte die Schwierigkeiten, die Europa heute in der Zeit des wachsenden Nationalismus hat. Die Vielfalt der Sprachen wird zur Untermauerung des jeweiligen Nationalgefühls missbraucht. Den Zerfall in die Vielsprachigkeit demonstriert Roth auf unglaubliche Weise. Auf einmal verstehen die Menschen einander nicht mehr. Jeder beginnt, sich in seinem eigenen Idiom zu artikulieren. Dieser Zustand meint etwas zutiefst Mitteleuropäisches. Auch in den Balkankonflikten herrschte plötzlich Kriegszustand zwischen Nachbarn, die ursprünglich gut miteinander waren. Plötzlich machten sie die Entdeckung, eine voneinander abweichende Nationalität zu besitzen, und damit war jedweder Grausamkeit Tür und Tor geöffnet.

STANDARD: Die Lehre daraus?

Simons: Die Einheit in den Vielsprachigkeiten zu leben. Ich lernte in der Schule in den Niederlanden noch Französisch, Deutsch und Englisch. Wenn man jetzt in Europa in eine Schule geht, lernt man – Englisch. Deutsch ist vielleicht noch ein Wahlfach. Zu meiner Zeit war der Sprachunterricht verpflichtend. Das mag sich jetzt reaktionär anhören, aber wenn jedermann nur noch Englisch spricht, dann geht der Reichtum Europas verloren.

STANDARD: Ein Verlustgeschäft?

Simons: Roth rechnet unaufhörlich vor, was es zu gewinnen, was es zu verlieren gibt. Er war sein Leben lang nirgendwo zu Hause. Er hat seine Heimat sehr früh verloren. Darum schrieb er auch mit Sentiment, niemals sentimental. Es gibt keinen größeren Schriftsteller des Heimwehs als Joseph Roth. Er hat ja übrigens auch eine Zeitlang in Amsterdam gelebt. Seine Literatur ist für niederländische Schriftsteller wie Geert Mak und Arnon Grünberg essenziell. Seine Sprache ist einfach, wie die eines Nachbarn, mit dem man im täglichen Austausch ist. Die Ursache für den Rechtsruck – jetzt mit Blick auf die Niederlande gesprochen – ist die Ungleichverteilung der abgegebenen Stimmen aus dem städtischen und ländlichen Bereich. Die rechten Stimmen kommen bei uns vorwiegend vom Land. Für diese Menschen gibt es bei uns heute keinen Autor, keine Stimme, die die dahinterliegenden Ängste artikuliert. Joseph Roth hingegen, den würde auch meine Mutter verstehen.

STANDARD: Sie meinen ein Gefühl der Entfremdung?

Simons: Und diese Entfremdung wird immer stärker werden. Wir stürmen auf etwas zu. Es ist schrecklich. Hätte ich keine Kinder, würde ich sagen: Ich bin Pessimist. (Ronald Pohl, 13.12.2017)