Über Macht und Gewalt im Geschlechterverhältnis mögen die Philosophen nicht nachdenken und individualisieren das Problem daher lieber.

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Im Zuge von #MeToo ist einiges in Bewegung geraten. Ob es zu einer nachhaltigen Veränderung von gesellschaftlichen Strukturen kommen wird, die sexuelle Gewalt und Belästigung hervorbringen, bleibt fraglich. Gleichzeitig formieren sich auf der einen Seite jene, die das Ganze als Phänomen eines "neuen Puritanismus" und gegen gesellschaftliche Liberalisierung gerichtet sehen. Auf der anderen Seite geht mit dem Aufstieg der politischen Rechten ein Angriff auf die Rechte von Frauen einher.

Von der Schauspielerin Nina Proll bis zu den Philosophen Robert Pfaller und Isolde Charim scheint Einigkeit darüber zu herrschen, dass das Öffentlichmachen sexueller Gewalt entweder den entspannten Umgang zwischen den Geschlechtern störe, von den wirklich wichtigen politischen Fragen der Gegenwart ablenke oder gar einen Rückschritt in der allgemeinen Liberalisierung anzeige. Es scheint, dass die teils provokativen Äußerungen vor allem den Zweck der Werbung für das eigene Produkt – im einen Fall ist es ein Film, im anderen ein Buch – verfolgen. Interessant bleibt dennoch das Verächtlichmachen der Opfer. Da werden Frauen, die sexuelle Gewalt oder Belästigung öffentlich machen, zum Beispiel zu "armen Hascherln" und schwachen Wesen. Die Argumentationsweisen erinnern an eine Querfrontstrategie, bei der man reaktionäre Inhalte in emanzipatorisches Gedankengut verpackt. Feminismus und Frauenrechte werden dann zum Gegenpart von Liberalität oder Arbeiterrechten.

Philosophisches Victim-Blaiming

Wer es wagt, auf widerfahrenes Unrecht oder Gewalt hinzuweisen, dem – oder vielmehr der – wird kurzerhand Subjektstatus und Handlungsfähigkeit abgesprochen. Denn man muss sich erstens nicht so anstellen und kann sich zweitens ja auch wehren. Man scheint ganz dem neoliberalen Opfer-Bashing verfallen. Eine der Logiken des Neoliberalismus ist es ja, dass selbst die Ohnmächtigsten und Ausgebeutetsten noch ihre Selbstbestimmtheit behaupten müssen. Nachdem schon im Feld des Sozialen das Scheitern radikal individualisiert worden ist, anstatt über gesellschaftliche Strukturen nachzudenken, die Ungleichheit hervorbringen, wird nun in altbekannter Manier Victim-Blaiming betrieben – auf vermeintlich hohem philosophischen Niveau. Über Macht und Gewalt im Geschlechterverhältnis mögen die Philosophen nicht nachdenken und individualisieren das Problem daher lieber.

Es wird auch argumentiert, dass man sich zwar über Sex beschweren könne, nicht aber über prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Zum einen werden nonchalant sexuelle Gewalt und Belästigung in Sex umdefiniert und zum anderen "Geschlecht" in Opposition zu "Klasse" gebracht. Offenbar trauert hier jemand der alten Haupt- und Nebenwiderspruchs-Architektur nach. Was in weiten Teilen der Linken mehr oder weniger und sehr mühsam überwunden zu sein scheint, kehrt nun mit liberalen Philosophen wieder zurück. Damit bleibt auch unbegriffen, dass die Geschlechterfrage eben nicht "nur" eine kulturelle Frage ist, sondern die Grundfesten der kapitalistischen Ökonomie berührt.

Neuer Puritanismus?

Aber auch darum geht es letztlich nur entfernt: Selbst wenn die Klassenfrage bemüht wird, so hauptsächlich deshalb, um sie gegen den Feminismus und andere "identitätspolitische Fragen" in Stellung zu bringen. Mit der "Ermächtigung der Opfer" gehe nämlich eine puritanische Sexualfeindlichkeit oder generell ein neuer Puritanismus einher, die einen Rückschritt in der "allgemeinen Liberalisierung" bedeuten. Wie und warum nun das eine mit dem anderen in einem Zusammenhang steht, wird zwar nicht argumentiert, dafür ist umso klarer, wer der Schuldige ist. Frauenrechte und Liberalisierung gehen in diesem Denken offenbar nicht zusammen.

Nun war eine der wichtigen Erkenntnisse des Feminismus, dass um die Verallgemeinerung von Rechten, den Zugang zu Öffentlichkeit oder Liberalität immer gekämpft werden musste und nie fraglos wirklich alle gemeint waren. Insofern steht der Feminismus wie die Arbeiterbewegung in der Tradition der Aufklärung im besten Sinn – oder im besseren Sinn, als von ihren Begründern intendiert. Wer sich ernsthaft mit politischen Perspektiven und emanzipatorischer Politik auseinandersetzen will, dem sollte klar sein, dass es nicht um ein Entweder-oder von Umverteilungs- oder Anerkennungspolitiken geht, sondern um deren Synthese – so schwierig das sein mag. (Alexandra Weiss, 14.12.2017)