Mohamed Jouma Ahamed kümmert sich notgedrungen um die Familie seines Bruders Ahamed. Nach Libyen zu gehen, um nach ihm zu suchen, ist dem 41-Jährigen zu gefährlich.

Foto: European Union/ECHO/Dominique Catton

Das UNHCR-Registrierungsdokument von Ahamed Jouma Ahamed (links unten), seiner Frau und seinen vier Söhnen.

Foto: European Union / Echo / Dominique Catton

Es klingelt, immer und immer wieder. Doch will oder eher kann keiner in Libyen abheben, seit geschlagenen zehn Tagen nicht. Mohamed Jouma Ahamed blickt starr in Richtung Boden, wenn er darüber spricht. Es geht um das Handy seines jüngeren Bruders Ahamed, der sich vom Tschad in Richtung Europa aufgemacht hat. Libyen scheint Endstation für den 37-Jährigen zu sein, wie für so viele andere Flüchtlinge. Tag und Nacht, sagt Mohamed Jouma Ahamed mit monotoner Stimme, "frage ich mich, was ihm passiert sein könnte". Angst habe er, Angst vor der Antwort.

Aus europäischer Perspektive betrachtet ist die Lage klar: Niemand soll den Weg nach Europa durch die Sahara, durch Libyen und schließlich übers Mittelmeer antreten. Zu gefährlich sei das alles, heißt es, schließlich kommen auf der Route jährlich tausende Menschen ums Leben. Aber natürlich geht es vor allem darum, die Ankünfte in Europa drastisch zu reduzieren, nach dem Rekordjahr 2016 mit 181.436 neu registrierten Flüchtlingen in Italien.

300.000 Flüchtlinge im Tschad

Südlich von Libyen, im subsaharischen Afrika, ist die Sicht der Dinge nicht nur geografisch eine andere. Im Camp Djabal nahe der Stadt Goz Beïda im Osten des Tschad sind Flüchtlinge aus Darfur untergebracht. Seit dort 2003 der bis heute andauernde Konflikt zwischen sudanesischen Truppen und Rebellen, die sich von der Zentralregierung in Khartum unterdrückt fühlen, begann, sind hunderttausende Menschen geflohen. Rund 300.000 befinden sich aktuell im Tschad, in Djabal sind es etwa 22.000.

Mohamed Jouma Ahamed ist einer von ihnen. Er, 41 Jahre alt, ist eine allseits respektierte Person in Djabal, das merkt man sofort. Der Großgewachsene, akkurat gekleidet in weißem Hemd und dunkler Faltenhose, ist nicht nur Direktor der einzigen Mittelschule, sondern auch Inspektor für sämtliche zehn Schulen in Djabal. Hierher kam er mit seiner Familie als einer der ersten Flüchtlinge, 2004 war das. Während damals noch alles provisorisch war, von Unterkünften bis zu medizinischer und sonstiger Versorgung, so mutet Djabal heute eher wie eine Stadt denn ein Camp an.

Ziegelhäuser statt Zeltstädte

Schulen gibt es genug, Geschäfte zieren die sandigen Straßen, und statt der sonst in Camps üblichen Zelte stehen überall stabile Ziegelhäuser. Nach dem Unterricht spielen die Kinder in Massen auf dem Basketballplatz, bei für den Osttschad winterlichen 35 Grad am Tag. Auch Schreckensmeldungen über bewaffnete Angriffe auf die Camps gehören der Vergangenheit an. Alles gut also? Dann wäre Ahamed Jouma Ahamed nicht nach Libyen gegangen.

Trotz all der Hilfe, die den Darfuris vor allem durch das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) und die Humanitäre Hilfe der EU (Echo) zuteil wurde – der Tschad selbst ist dafür zu arm -, ist das Leben in den Lagern eines ohne große Zukunftschancen. Nach der Schule dürfen nur wenige mittels Stipendium an die Uni. Arbeiten darf man, doch die guten Jobs bleiben Flüchtlingen verwehrt. So sind weiterhin fast alle von Hilfsorganisationen abhängig. Eine Rückkehr ist nicht möglich, zu gefährlich ist es immer noch in Darfur. Und die Chancen, einen der raren Resettlementplätze für die legale Einreise nach Europa zu ergattern, sind gering.

Lehrergehalt zwölf Euro im Monat

Das alles erklärt die Geschichte von Ahamed Jouma Ahamed. Als Lehrer habe er gearbeitet und dafür 8000 tschadische CFA im Monat erhalten. Umgerechnet sind das etwa zwölf Euro, hier wie dort also quasi nichts, vor allem wenn man Frau und vier Kinder hat. Nach jahrelangem vergeblichen Warten auf Besserung hat es Ahamed schließlich gereicht.

"Zuerst ging Ahamed ins Goldminengebiet von Tibesti, um zu Geld zu kommen", erzählt Mohamed. Tibesti im Nordwesten des Landes kann man getrost als tschadisches Klondike bezeichnen. Doch herrschen dort die Tibu-Milizen, mit denen eher nicht zu spaßen ist. Letzten Endes hat Ahamed aber eine Krankheit zum Aufgeben gezwungen. Nur mit Mühe und ohne Geld schaffte er es wieder zurück nach Djabal.

1230 Euro Lösegeld an Miliz

Wieder genesen, entschied er, nach Europa gehen zu wollen – in vollem Bewusstsein, wie es in der Sahara, in Libyen, im Mittelmeer zugeht. "Von Kalait aus hat er mit Freunden ein Auto gemietet. An der Grenze wurden sie von Milizen gefasst", erzählt Mohamed. Einen Monat lang haben sie Ahamed gefangen gehalten und geschlagen, bis er die Nummer seines Bruders verriet. "Sie riefen an und verlangten 2000 libysche Dinar für die Freilassung meines Bruders." Doch die umgerechnet etwa 1230 Euro besaß er nicht. Ein Freund im Camp Djabal half aus.

Wieder freigelassen, verschlug es Ahamed in die Hafenstadt Bengasi, wie er seinem Bruder in regelmäßigen Telefonaten erzählte. Arbeit fand er in einer Fabrik, er wollte Geld verdienen, um die Lösegeldschuld zurückzuzahlen – und um sich dann Schlepper für die Überfahrt nach Europa leisten zu können. 1000 libysche Dinar, etwa 600 Euro, sagt Mohamed, sollen dafür notwendig sein.

Letztes Lebenszeichen aus Bengasi

In Bengasi, erzählte Ahamed seinem Bruder, sei es stets gefährlich gewesen. Kaum einer ging hinaus auf die Straße. Oft klopften Bewaffnete an das Haus, in dem er wohnte, und forderten Geld.

Nun herrscht Funkstille. Den Weg nach Europa kann er noch nicht beschritten haben, erklärt Mohamed. Sein Bruder hatte nicht einmal genug Geld, um seine Schulden zu begleichen. Was passiert sein könnte, Mohamed will es gar nicht aussprechen. Aber er weiß vom Sklavenhandel in Libyen, weiß von den Foltergefängnissen, vom Tod, der hinter jeder Ecke lauern könnte.

Selbst will er nicht nach Libyen gehen, um nach seinem Bruder zu suchen. Auch jedem anderen würde er die Reise dorthin ausreden wollen, zu gefährlich sei es. Doch kann er jene verstehen, die trotzdem versuchen, nach Europa zu gelangen. "Dort ist es besser als hier", sagt Mohamed. Auch wenn er weiß, dass Flüchtlinge alles andere als mit offenen Armen empfangen werden. (Kim Son Hoang aus Goz Beïda, 16.12.2017)

Die Reise in den Tschad wurde von Echo finanziert.