Die Angelobung der türkis-blauen Regierung Montagvormittag wurde von Demonstrationen begleitet. Auf den Plakaten wurden auch die Bildungspläne von ÖVP und FPÖ thematisiert.

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"Bildung ist kein Luxusgut", steht hier. Aber erhöhen Studiengebühren die Bildungsungleichheit?

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Eine wichtige Facette, die in der Ungleichheitsdebatte gerne vergessen wird, ist die der Bildungsungleichheit. Der beste Prädiktor für persönliches Einkommen ist schließlich die Anzahl der Jahre, die jemand in Ausbildung verbracht hat. Sieht es eine Gesellschaft als ihr Ziel an, die Schere zwischen Arm und Reich zu schließen, so muss sie notwendigerweise danach trachten, dass Jugendliche nicht nur formell Zugang zu höchstmöglicher Bildung haben, sondern diese auch tatsächlich in Anspruch nehmen.

Führt Gratisbildung zu höherer Bildung?

Unter Ökonomen ist immer noch umstritten, inwieweit die Ausbildungsjahre kausal, also ursächlich, auf zukünftiges Einkommen und Erfolg im Beruf wirken. Das statistische Problem hier ist, dass intelligentere und ambitioniertere Menschen im Schnitt eher dazu tendieren, ein Studium aufzunehmen. Es ist also nicht klar, ob observierte Individuen erfolgreich sind wegen ihrer Ausbildung oder weil sie schlicht intelligenter sind. Ein klassisches Endogenitätsproblem. Eine kürzlich veröffentlichte Metastudie, die eine stattliche Anzahl von hochwertigen Einzelstudien unter die Lupe nimmt, dokumentiert aber tatsächlich einen relativ starken Effekt von Ausbildungsjahren auf den persönlichen IQ.

Eine weitere wichtige Vorhersagevariable ist der Ausbildungsstand der Eltern. Die Kinder von gut gebildeten Eltern erfahren im Durchschnitt auch gute Bildung. Was also tun, um diesen Zyklus zu brechen? Die intuitive Antwort eines jeden wäre klarerweise, Bildung gratis zu machen, um somit jeder Person – egal mit welchem sozialen Hintergrund – formell den Zugang zu (höherer) Bildung zu ermöglichen. Einige kürzlich veröffentlichte hochqualitative Studien lassen aber Zweifel an dieser Aussage zu. Wie so oft in der Ökonomie gibt es auch hier erste Indizien, dass gute Intentionen nicht notwendigerweise zu guten Resultaten führen:

  • Alonso Bucarey vom MIT findet im chilenischen Kontext, dass eine Abschaffung von Studiengebühren dazu führt, dass der Wettbewerb um den Zugang zu selektiveren – und mutmaßlicherweise besseren – Studienprogrammen härter wird. Das führt dazu, dass Bewerber mit sozial schwächerem Hintergrund, die sich andernfalls qualifiziert hätten, ob der höheren Nachfrage sich nicht mehr qualifizieren. In einem durchdachten Gleichgewichtsmodell schätzt er, dass 20 Prozent von derzeit inskribierten "armen" Studenten ihre Plätze an Wohlhabendere verlieren würden (wenn Plätze begrenzt sind – eine Annahme, die nicht zu unrealistisch ist, siehe Studienaufnahmetests in Österreich).
  • Richard Murphy (UT Austin), Gillian Wyness (UCL) und Judith Scott-Clayton (Columbia) analysieren den Effekt von Studiengebühren in England, einem Land, das innerhalb von zwei Jahrzehnten von einer kostenlosen tertiären Ausbildung zu einem der teuersten Systeme weltweit transformierte. Langzeitergebnis: erhöhte finanzielle Mittel pro Kopf, erhöhte Inskriptionsraten und erhöhter Anteil von Inskribenten aus sozial schwächeren Familien. Dies wurde erreicht durch ein Bildungskreditsystem, das tatsächlich die verhältnismäßig reicheren Familien für benachteiligte Studierende bezahlen lässt. Erhöhte Qualität, Quantität und Gleichheit durch Umverteilung also. Weitere Evidenz für diesen Effekt liefert eine eher deskriptive Analyse der US-Ökonomin Lucie Lapovsky, wonach es an vier von acht anonymen US-Universitäten, die innerhalb der vergangenen 20 Jahre ihre Studiengebühren reduzierten, zu einer sinkenden Anzahl von Studenten aus sozial schwachen Schichten kam. Nach der bereits etwas älteren Studie von Martín Rozada González und Alicia Meredez stellt in Argentinien der freie Hochschulzugang eher eine Subvention für die Oberschicht dar.

Freier Hochschulzugang die beste Lösung?

Dieser Userkommentar versucht nicht zwingenderweise zu suggerieren, dass man im derzeit existenten österreichischen System Studiengebühren einführen sollte. Alle bisherigen Studien analysieren andere Länder, und es ist unklar, inwieweit sich diese Ergebnisse auf Österreich ummünzen lassen. So ist zum Beispiel das englische System bei weitem nicht perfekt und muss sich ständige Kritik gefallen lassen. Ob der zunehmenden Evidenz aus hochqualitativen Studien wäre es allerdings angebracht, den Glauben zu überdenken, dass ein freier Hochschulzugang notwendigerweise die beste Lösung ist, um Bildungsungleichheit zu vermindern.

Erhöhte Einkommensungleichheit

Bucarey zeigt in seinem Papier, dass Ausweitungen von finanziellen Hilfen für Studenten aus der Mittelschicht in der Vergangenheit dazu führten, dass der Anteil an Studierenden aus niedrigen Einkommensschichten erheblich sank. Ein Phänomen, das in der Ökonomie als "Crowding-out Effect" bezeichnet wird. Um dies näher zu untersuchen, bildet er ein ausgefeiltes Gleichgewichtsmodell, das er dann nützt, um einen Effekt anhand einer Diskontinuität – erzeugt durch willkürliche Zulassungskriterien für zwei verschiedene Bildungskredittypen – zu schätzen. Letztlich findet er, dass bei freiem Hochschulzugang und unveränderter Kapazität sozial schwächere Studenten durch solche mit privilegierterem sozioökonomischem Hintergrund ersetzt würden.

Dafür macht er den erhöhten Wettbewerb verantwortlich, der dazu führen würde, dass der sogenannte "Displacement Effect" den durchschnittlichen Studenten aus der untersten Einkommensschicht um 600 US-Dollar Einkommen im Jahr berauben würde. Eine erhöhte Einkommensungleichheit also unter dem Strich. Eine mögliche Erklärung von vielen für diesen Effekt ist, dass sich Jugendliche aus wohlhabenderen Schichten besser auf Eignungstests vorbereiten können und aufgrund höherer finanzieller Mittel oder von ihren Eltern im Allgemeinen besser vorbereitet werden.

Qualität der Unis verbessert

In England konnte bis 1998 eine jede öffentliche Universität ohne Gebühr besucht werden. Im Zuge eines Reformpakets erhöhte sich danach die Studiengebühr auf circa 10.000 Pfund pro Jahr. Zeitgleich wurde ein neues System für Studentenkredite eingeführt, das keine Gebührenzahlungen verlangt, bevor man ein geregeltes Einkommen hat, und großzügige finanzielle Zuschüsse erlaubt, um den Lebensunterhalt während des Studiums zu bestreiten. Murphy und andere finden, dass dieses sogenannte ICL-System ("income-contingent loan", die Rückzahlungen hängen also vom individuellen Einkommen ab), das die Gebühren effektiv vom Steuerzahler auf die Universitätsabgänger selbst umwälzt, die Universitäten und Studenten zu den finanziellen Nutznießern machte.

Obzwar es mit Schottland – einem Land, das diese Reform nicht durchführte – einen Referenzpunkt gibt, räumen die Autoren ein, dass man nicht weiß, was passiert wäre, hätte man diese Reformen nicht durchgeführt. Das schottische System hat im Vergleich zum Englischen in den vergangenen 20 Jahren an Boden verloren. Jedenfalls hat sich die bis circa 2000 stark aufgehende Schere in puncto Bildungsungleichheit seither stabilisiert, und darüber hinaus hat sich die Qualität der Unis drastisch verbessert. Englische Unis sind in internationalen Rankings besser denn je und sind attraktive Arbeitsplätze für die absolute Weltspitze der Wissenschaft.

Humankapital für Wirtschaft

Derartige Spitzenunis ziehen natürlich auch kluge Köpfe aus dem Ausland an, sowohl Studierende als auch lehrende Wissenschafter und deren Forschungsgelder. Andererseits würden diese auch vermehrt einheimische Forscher dazu bewegen, im Land zu bleiben. Man weiß sowohl durch empirische Evidenz als auch aus der ökonomischen Agglomerationstheorie, dass eine erhöhte Konzentration von Humankapital gewisse Orte dann zu bevorzugten Standorten für Firmen zum Beispiel aus der Technologiebranche macht. Extrembeispiele aus den vergangenen Jahrzehnten sind zweifelsohne Cluster von Top-Unis rund um Stanford, die letztlich zur Entwicklung des Silicon Valley führten, oder die wachsende Biotechnologiebranche in der Metropolregion von Boston, die aus dem Absolventenpool von Harvard, MIT und Konsorten fischen kann. Das hat notwendigerweise auch Effekte auf die lokale und regionale Privatwirtschaft, ein erhöhtes Steueraufkommen, gut verdienende Haushalte, die wiederum Dienstleistungen nachfragen, und so weiter. Ein Nebenaspekt, den man in Debatten über den Universitätssektor und dessen Reform nicht außer Acht lassen darf.

Einfluss der Studiengebühr auf Studienwahl

Eine weitere Erwägung ist, dass die Studienwahl von Jugendlichen von der Höhe der Studiengebühr zu einem gewissen Grad beeinflusst wird. So haben sich nach der Senkung von Studiengebühren rund um die Jahrtausendwende im teilweise öffentlich finanzierten Campusverbund der University of California die Graduiertenzahlen empfindlich in Richtung "Arts & Humanities" verschoben, während sie in STEM-Feldern (Science, Technology, Engineering, Mathematics, hierzulande oft als Mint bezeichnet) eher zurückgingen.

Mögliche Ursachen könnten sowohl pekuniärer als auch nichtpekuniärer Natur sein. Personen, die sich von Geisteswissenschaften nonmonetären Nutzen wie zum Beispiel Kreativität erwarten, würden bei sinkenden Gebühren ein solches Studium eher nachfragen. Weiters würden sich zukünftige Rückzahlungsströme von Krediten für die Absolventen verändern. Das könnte dazu führen, dass einige nicht mehr die Notwendigkeit sehen, sich für eine potenziell besser besoldete Karriere in den so immens nachgefragten STEM-Feldern zu entscheiden. Dieses Phänomen, dass erhöhte Studiengebühren zu mehr Absolventen in den Feldern führen, die in der Wirtschaft hoch nachgefragt werden, wird in den USA schon länger beobachtet beziehungsweise öffentlich diskutiert (siehe etwa im "Guardian": "Love or money? High tuition fees lead students to vocational degrees").

Das österreichische Modell?

Das Vorbild einer Reform der österreichischen Universitätslandschaft kann bestimmt nicht das US-System mit seinen unverschämt hohen Studienbeiträgen sein. Allgemein ist es am wichtigsten, dass die besten und intelligentesten jungen Menschen nicht nur formell Zugang zu guten Universitäten haben, sondern auch tatsächlich die Hochschulen besuchen. Solide Langzeitevidenz zeigt, dass Systeme mit mäßigen Gebühren und einem durchdachten Studienkreditsystem die Bildungsungleichheit eher vermindern könnten und zugleich mehr Geld in die Kassen der Unis spülen würden. Verschuldung für Bildung ist zugegebenermaßen per se nicht übermäßig attraktiv, aus Ländern wie Schweden und Finnland wissen wir aber, dass ein Studienkreditsystem nachhaltig und langfristig betrieben werden kann.

Wir könnten uns also in der mittleren beziehungsweise langen Frist ein anderes Modell ausdenken. Dies bedarf allerdings jahrelanger Vorbereitung und öffentlicher Diskussion. Vor allem, weil es zu einem erheblichen Teil eine Frage der Angebotsseite ist: Will man gute Wissenschafter anlocken, und hat man den Wunsch, dass junge Erwachsene – vermehrt auch aus sozial schwächeren Familien – auf gute Universitäten gehen, so muss man mehr gute Universitäten zur Verfügung stellen beziehungsweise die existierenden verbessern. Gute Universitäten bedürfen finanzieller Mittel. Finanzielle Mittel, die man mit geschickter Umverteilung lukrieren könnte, ohne den Staatshaushalt zusätzlich zu belasten. (Alexander Lehner, 18.12.2017)