Wer kann ausschließen, dass das Kind nicht längst aufgegeben hatte, weil der Druck viel zu groß war?

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Angesichts der Aufregungen rund um die neue türkis-blaue Regierung ist ein Thema untergegangen, das wichtig und bedrückend ist – aber eben nicht so wichtig wie zwei kraftstrotzende Männer und ihr politisches Bündnis.

Denn es geht nur um ein schwaches Kind. Ein totes Kind.

Es geht um den elfjährigen Buben, der im November in Baden bei Wien Suizid begangen hat, von dem immer geschrieben wird, er sei ein "Flüchtlingsbub" gewesen. Als ob es nicht egal wäre, aus welchem Teil der Welt ein Kind stammt, das keinen anderen Ausweg mehr sieht, als sich umzubringen.

Nicht auffällig

Diesen Fall hat nun die Volksanwaltschaft untersucht, und sie ist zu dem Schluss gekommen, dass "weder sein familiäres noch soziales oder schulisches Umfeld zu irgendeinem Zeitpunkt ein verhaltensauffälliges oder gar selbstgefährdendes Verhalten des Kindes wahrgenommen" habe. Fazit der Volksanwaltschaft: Wegen des Suizids des Buben könne man der Bezirkshauptmannschaft Baden und dem Land Niederösterreich keinen Vorwurf machen.

Wer schon einmal ausführlicher mit Behörden zu tun hatte, weiß, dass das als "Carte Blanche", als Freispruch auf allen Linien missverstanden werden wird. Da fällt kaum mehr ins Gewicht, dass Volksanwalt Günther Kräuter "unabhängig von dieser Tragödie" die Überforderung des Buben kritisierte, die aus der Übertragung der Obsorge an dessen 23-jährigen Bruder resultierte.

Nicht "nur" eine Tragödie

Das Anprangern von Missständen in österreichischen Behörden wirkt mitunter so, als würde man mit der Gabel in ein Gelee stechen: gar nicht. Zieht man die Gabel wieder heraus (oder verhallt die Kritik), sieht das Gelee wieder so aus wie davor. Sagt man also zwei Behörden, sie seien eh nicht schuld daran, dass sich ein Elfjähriger umgebracht hat, aber ansonsten sei, "unabhängig davon", gepatzt worden, verhallt das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit.

Dass es alles andere als ein "normaler" Vorfall ist, wenn ein Kind sein Leben beendet, dass es nie "nur" eine Tragödie, sondern immer auch ein Skandal und eine Ungeheuerlichkeit in jeder Hinsicht ist, dass dieses Kind so unglücklich, so allein, so verzweifelt war – darüber denken Behörden eher nicht nach.

Zahlreiche Hinweise

Zur Erinnerung: Der elternlose Elfjährige hat ursprünglich mit seinen fünf Geschwistern, Tante und Onkel in einem niederösterreichischen Grundversorgungsquartier für Menschen mit erhöhtem Betreuungsbedarf gelebt. Dies deshalb, weil einer seiner Brüder das Downsyndrom hat. Anfang 2016 hatte der volljährige Bruder den Antrag auf Obsorge gestellt und diese auch bekommen.

Damit begannen die Probleme der Kinder. Der 23-Jährige war überfordert, der Elfjährige sprang bei Behördengängen und als Dolmetscher ein, kümmerte sich um die ganze Familie in einem Ausmaß, das seine Möglichkeiten und sein Lebensalter überstieg. Und es gab auch Gefährdungshinweise: Vor allem die Vernachlässigung des Bruders mit Downsyndrom fiel auf, Diakonie und Ex-Flüchtlingskoordinator Christian Konrad schalteten sich ein, und – nichts geschah.

Alles unabhängig

Am 11. November schließlich wurde der Elfjährige, der bis dahin "unauffällig" war und brav in der Schule, gemeinsam mit einem Siebenjährigen beim Ladendiebstahl in einem Spielwarengeschäft erwischt. Die beiden Buben hatten zwei Täschchen im Wert von wenigen Euro "mitgehen" lassen. Tags darauf war das Kind tot.

Nun wie der Volksanwalt abzuleiten, dass dies alles unabhängig voneinander zu sehen sei – die Überforderung, die Belastung, der Suizid –, ist, gelinde gesagt, gewagt. Wer kann garantieren, dass das Kind nicht längst aufgegeben hat, nach Hilfe zu schreien, weil es ohnehin keiner gehört hätte? Wer kann sicher sein, dass es sich nicht schon längst in sich zurückgezogen hat, seine Gefühle nicht preisgab, weil der Druck so riesengroß war, sich unbedingt zu integrieren und "funktionieren" zu müssen?

Möglich, dass nach dem Buchstaben des Gesetzes nichts falsch gelaufen ist. Dass alles korrekt war. Niemand hat Schuld. Nur ein Kind ist tot. (21.12.2017, Petra Stuiber)