Wien – Eine deutliche Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher hat am 15. Oktober Mitte-rechts-Parteien die Stimme gegeben. Aber heißt das auch, dass sich die Mehrheit der Österreicher ideologisch Mitte-rechts verorten würde? Nicht unbedingt, wie ein Forscherteam der Universität Wien in einer repräsentativen Umfrage für ganz Österreich herausgefunden hat.

Die Daten der zu mehreren Zeitpunkten zwischen Juni und Oktober 2017 insgesamt rund 4000 Befragten, die dem STANDARD vorliegen, zeigen, dass sich die Mehrheit in gesellschaftspolitischen Fragen wie Migration und Zuwanderung Mitte-rechts positioniert. Wenn es aber um Sozial- und Wirtschaftspolitik geht, vertreten die Österreicher stärker linke Ansichten (siehe Grafik).

Weitere Dimension von links und rechts

Sylvia Kritzinger ist Co-Projektleiterin des Forschungsverbunds Austrian National Election Study (AUTNES), der die Daten erhoben hat, und Professorin am Institut für Staatswissenschaft der Uni Wien. Wie es zu diesem "ideologischen Spagat" kommt, erklärt sie damit, dass sich das Verständnis von links und rechts in den vergangenen 40 Jahren stark verändert hat. In den 1970ern war dies überwiegend mit Wirtschaftspolitik verknüpft: Links sein hieß, für mehr Staat und ein starkes Sozialsystem einzutreten. Rechts stand für weniger Staat und neoliberale Positionen.

Doch seit den 1980er-Jahren ist laut Kritzinger eine weitere Dimension im Links-rechts-Gefüge dazugekommen, die bei dieser Wahl den Ausschlag gegeben hat: die gesellschaftspolitische. Gesellschaftspolitisch linke Wähler begrüßen etwa eine offene Zuwanderungs- und eine progressive Frauenpolitik. Gesellschaftspolitisch rechte Wähler treten hingegen für eine Abschottung des Nationalstaats, eine restriktive Zuwanderungspolitik, aber auch für konservative Geschlechterverhältnisse ein.

Schleichende Veränderung

Dass sich links und rechts nicht mehr nur eindimensional an der Ökonomie festmachen lässt, sondern die gesellschaftspolitische Komponente hinzugekommen ist, sei keine kurzfristige punktuelle, sondern eine schleichende Veränderung der vergangenen Jahrzehnte, so Kritzinger. Dieses sei zunächst durch die europäische Integration und Fragen, wie mit der Öffnung der Grenzen umzugehen ist, beschleunigt worden, zuletzt durch die Flüchtlingskrise des Jahres 2015.

Bei der Nationalratswahl am 15. Oktober hat eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler ihre Stimme für Parlamentsparteien Mitte-rechts abgegeben. Doch bei welchen Themen stehen die Österreicherinnen und Österreicher tatsächlich Mitte-rechts – Forscher der Uni Wien haben dazu eine repräsentative Umfrage durchführen lassen.
Foto: APA/HELMUT FOHRINGER

"Immer mehr Wähler positionieren sich ökonomisch links, aber gesellschaftspolitisch rechts oder konservativ", sagt Kritzinger. Für linke Parteien sei bei den diesjährigen Nationalratswahlen fatal gewesen, dass gesellschaftspolitische Themen wie Zuwanderung viel stärker gewogen haben als sozioökonomische Fragen: 58 Prozent von 3166 Befragten gaben in der Woche vor der Wahl an, dass Zuwanderung und Asyl ein wichtiges innenpolitisches Thema für sie sei. Demgegenüber standen nur 23 Prozent, die Arbeit und Beschäftigungspolitik als wichtiges Thema einstuften.

Differenzierter Blick auf Rechtsruck

Da ÖVP und FPÖ vermehrt Kompetenz bei Zuwanderung und Asyl zugetraut worden ist, konnten diese Parteien aufgrund der Wichtigkeit der Themen stärker punkten als die SPÖ, der zwar Kompetenz in Beschäftigungsfragen zugesprochen wird – was aber bei dieser Wahl für viele kein ausschlaggebendes Wahlthema war.

Die Daten dieser großangelegten Umfrage bieten daher auch ein differenzierteres Bild, was die vermeintliche Verschiebung nach rechts, zu der es bei diesen Wahlen gekommen ist, angeht. Kritzinger: "Es ist in Österreich nach den Wahlen stark von einem Rechtsruck gesprochen worden. Wahrscheinlich ist aber, dass es diese gesellschaftspolitischen rechtskonservativen Positionen in dieser Form immer schon gegeben hat – nur waren diese Themen bisher bei der Wahlentscheidung weniger wichtig."

Grafik: AUTNES/Standard

Dass viele FPÖ-Wähler möglicherweise weniger bedacht haben, welches Wirtschaftsprogramm sie mit ihrer Stimme für rechts ebenfalls unterstützen, zeigt sich auch daran, dass "das Wirtschaftsprogramm der neuen Regierung für den Großteil der FPÖ-Wähler nicht unbedingt Vorteile mit sich bringt", sagt Julian Aichholzer vom Institut für Staatswissenschaft der Uni Wien, der ebenfalls an der Studie beteiligt ist. "Man wird sehen, ob die Wähler das in künftigen Wahlen sanktionieren werden."

Eiertanz für Regierung

Was bedeutet die Diskrepanz zwischen wirtschaftlich linkeren Ansichten und gesellschaftspolitisch rechtskonservativen Mehrheiten in der österreichischen Wählerschaft? Kritzinger: "Die Regierung steht vor der Herausforderung eines Eiertanzes zwischen ökonomisch links und gesellschaftspolitisch rechts. Es hat sich auch bei den ersten Reaktionen zum Zwölf-Stunden-Tag gezeigt, dass dies nicht die ökonomischen Positionen der Mehrheit der FPÖ-Wähler sind."

Vor allem die FPÖ könnte diese Diskrepanz besonders treffen – gerade ihre Wähler erwarten ökonomisch linkere Maßnahmen als die ÖVP-Wähler, sagt Kritzinger. "Viele Wähler haben wahrscheinlich aufgrund der gesellschaftspolitischen Ausrichtung eine Wahlentscheidung getroffen und möglicherweise dabei übersehen, was die ökonomischen Auswirkung dieser Wahlentscheidung sind." Kritzinger ortet diesen ideologischen Spagat allerdings nicht nur bei der FPÖ: "Es ist auch die Schwäche der SPÖ, dass sie die Leute wirtschaftspolitisch anziehen kann, aber nicht gesellschaftspolitisch."

Politische Selbstverortung

Weiters wurde in der Umfrage die ideologische Selbsteinschätzung der Wählerinnen und Wähler erhoben, sowie die ideologische Einschätzung der Partei, die sie gewählt haben. Dabei ließ sich eine überaus große Übereinstimmung festmachen – für die Forscher war das eine Überraschung. "Es gibt immer wieder Diskussionen darüber, dass die Wählerinnen und Wähler nicht entlang ihrer ideologischen Positionen wählen, sondern sie aus Protest, Unwissen oder weil sie von einem Kandidaten überzeugt sind", sagt Kritzinger.

Bei der vergangenen Wahl hat sich aber gezeigt, dass die Wähler sehr wohl in großer Übereinstimmung mit ihren ideologischen Positionen wählen. "Die These, dass die FPÖ-Wähler aus der Mitte der Gesellschaft kommen, ist nach diesen Daten nicht mehr haltbar", betont Roland Verwiebe, Professor für Soziologie an der Universität Wien, der innerhalb des an der Universität Wien ansässigen Forschungsverbunds Interdisziplinäre Werteforschung mit Kritzinger zusammenarbeitet. (Tanja Traxler, 21.12.2017)