Lise Meitner und Otto Hahn in ihrem Labor am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin, 1913.

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Bei ihrer Entdeckung des Prinzips der Kernspaltung 1938 ahnten die Physikerin Lise Meitner...

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...und ihr Neffe Otto Frisch noch nichts von der militärischen Anwendung der Kernenergie in Form der Atombombe.

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Frisch arbeitete ab 1943 am Manhattan-Projekt mit. Im Bild: J. Robert Oppenheimer, der wissenschaftliche Leiter des US-Atombombenprogramms (links) und der militärische Leiter, General Leslie R. Groves.

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Atompilz über Nagasaki nach dem Abwurf der Bombe "Fat Man" am 9. August 1945.

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David Rennert, Tanja Traxler: "Lise Meitner – Pionierin des Atomzeitalters". € 24 / 224 Seiten. Residenz-Verlag, Salzburg/Wien 2018.

Die Biografie ist als Wissenschaftsbuch des Jahres nominiert, zur Online-Abstimmung geht es hier

Cover: Residenz Verlag

Familientreffen in den Weihnachtsfeiertagen können fatale Konsequenzen haben. Die folgende Geschichte erinnert zunächst an ein wissenschaftliches Weihnachtsmärchen, mündet aber in einen Politthriller, wie man ihn spektakulärer kaum erfinden könnte. Die Hauptprotagonisten sind Österreichs berühmteste Physikerin Lise Meitner und ihr Neffe Otto Frisch.

Als Frisch seine Tante am Morgen des 24. Dezembers 1938 in Kungälv, einem Städtchen im Südwesten Schwedens, trifft, bemerkt er schnell, dass etwas nicht stimmt. Statt den jungen Physiker wie sonst gleich über seine neuesten Experimente zu befragen, drückt sie ihm einen Brief in die Hand, den sie wenige Tage zuvor aus Berlin erhalten hat. Absender ist der Chemiker Otto Hahn, mit dem Meitner bis zu ihrer Flucht aus Deutschland im Juli des Jahres eng zusammengearbeitet hat. Frisch ahnt in diesem Moment noch nicht, dass er die Grundlage für eine physikalische Revolution in den Händen hält.

Aufbauend auf der gemeinsamen Arbeit mit Meitner sind Hahn und sein Kollege Fritz Straßmann bei Experimenten mit Uran auf ein unerklärliches Phänomen gestoßen. Hahn ist verunsichert, will die Resultate aber möglichst schnell veröffentlichen. "Wir können unsere Ergebnisse nicht totschweigen, auch wenn sie physikalisch vielleicht absurd sind", schreibt er an Meitner und bittet sie, die Ergebnisse zu interpretieren: "Du tust ein gutes Werk, wenn du einen Ausweg findest."

Rechnungen im Winterwald

Meitner zweifelt keine Sekunde an der korrekten Durchführung der Experimente, zu gut kennt sie die Expertise der beiden Chemiker. "Ich begriff, dass diese Resultate einen ganz neuen wissenschaftlichen Weg eröffneten", erinnert sie sich später an die folgenreichen Dezembertage. Frisch hingegen ist zunächst skeptisch.

Seit Jahren verbringen Neffe und Tante Weihnachten gemeinsam, nun zum ersten Mal in Meitners schwedischem Exil. Der jüdischen Familie sind christliche Traditionen nicht fremd, Meitner hat sich als junge Frau sogar evangelisch taufen lassen. "Ich glaube nicht, dass es für sie ein kirchliches Fest war, doch es war ihr wichtig, dass wenigstens einer aus der Familie zu Weihnachten da ist", sagt die Wissenschaftshistorikerin Annette Vogt vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin.

Die beiden Physiker brechen an diesem 24. Dezember 1938 zu einem Winterspaziergang auf. Frisch schnallt sich Skier an, Meitner geht lieber zu Fuß. Unterwegs erweitern sie gedanklich das bisher anerkannte Atomkernmodell, bis ein "Auseinanderfliegen" des Nukleus möglich scheint – was die Ergebnisse aus Berlin erklären könnte. Auf einem Baumstamm im Wald beginnen sie, "auf kleinen Zettelchen zu rechnen", schreibt Frisch in seiner Autobiografie. Dabei wird klar, dass bei einem solchen Prozess gewaltige Mengen an Energie freigesetzt würden – ein Gedanke, der die Welt nachhaltig verändern wird: Der Weg zu Atombombe und Kernenergie ist eingeschlagen.

Atomare Aufbruchsstimmung

Um den damaligen Überlegungen von Meitner und Frisch folgen zu können, bedarf es eines kurzen Rückblicks auf die Geschichte der Kernphysik: Ab 1896 wiesen die französischen Physiker Henri Becquerel sowie Marie und Pierre Curie in einigen Experimenten eine neue Art von Strahlen bestimmter chemischer Elemente nach. Marie Curie prägte für dieses Phänomen, für dessen Entdeckung die drei Forscher 1903 mit dem Physiknobelpreis ausgezeichnet wurden, den Begriff "Radioaktivität".

Eine ganze Generation an Physikern und Chemikern stürzte sich in das neue Forschungsfeld. Weitgehend ahnungslos, was die Gefahr von Strahlenschäden angeht, aber angetrieben von der Hoffnung, einen Beitrag zur Heilung von Krebs zu leisten, achteten viele nicht darauf, Vorsichtsmaßnahmen einzuhalten – und sei es auch nur, Arbeitshandschuhe zu tragen. So darf es wenig verwundern, dass viele der Forscher an Strahlenschäden litten und teils auch vorzeitig daran starben, beispielsweise Marie Curie.

Die wissenschaftlichen Erfolge blieben nicht aus: Mitte der 1930er-Jahre versetzte der italienische Physiker Enrico Fermi die Fachwelt mit Experimenten in Begeisterung, in denen er Uran mit Neutronen beschoss. Dabei konnte er noch schwerere Atome erzeugen, sogenannte Transurane, die auch radioaktiv sind. Dieser Ansicht war Fermi jedenfalls ebenso wie seine Kollegen und auch das Stockholmer Nobelkomitee, das ihm am 10. Dezember 1938 den Physiknobelpreis für die Erzeugung der Transurane überreichte.

Enorme Energiefreisetzung

Genau 14 Tage später – und nun sind wir zurück im weihnachtlich verschneiten Kungälv – erkannten Meitner und Hahn, worauf ihr Kollege Fermi in Wirklichkeit gestoßen war: die Kernspaltung. Hahn und Straßmann hatten die mit Neutronen beschossenen Uranproben einer chemischen Analyse unterzogen, doch sie erzeugten damit keine schweren Atome, wie Fermi behauptet hatte. Ganz im Gegenteil fanden sie Barium, das einen leichteren Kern hat als Uran.

Doch wie konnte das sein? Atomkerne, die weitere Neutronen aufnehmen, müssten doch schwerer werden – es sei denn, die bestrahlten Atomkerne teilen sich in zwei kleinere Kerne. Genau das ist die revolutionäre These, die Meitner und Frisch aufstellen, und, wie ihre ersten Rechnungen noch im schwedischen Wald ergeben, stimmen die dabei freigesetzten Energien genau mit den Messresultaten aus Berlin überein.

Rund vier Wochen später veröffentlichen Meitner und Hahn ihre Überlegungen im auch damals schon renommierten Fachblatt Nature. Hahn und Straßmann haben ihre Ergebnisse schon davor publiziert – zwar mit einer Referenz auf Meitners physikalische Erklärungen, allerdings wird sie nicht als Koautorin angeführt, wie es in den Jahren zuvor stets geschehen war. Damals war zwar auf Anhieb klar, welche Bedeutung die Entdeckung der Kernspaltung für das Verständnis der Physik der kleinsten Teilchen hatte, doch die gesellschaftlichen und weltpolitischen Folgen waren bei Weitem noch nicht absehbar.

Vertriebene Forscher

Als Frisch Jahrzehnte später über die Bedeutung der Kernkraft schreibt, fällt auf, dass er die physikalischen Phänomene gerne mit politischen Metaphern ausdrückt: Von "Ausreisevisa" der Protonen aus dem Atomkern ist da beispielsweise die Rede, oder ein "Energiedarlehen", das nach erfolgtem "Grenzübertritt" wieder zurückzuzahlen sei.

Diese Analogien dürfen wenig verwundern, wenn man bedenkt, in welch prekärer Situation sich Meitner und Frisch zum Zeitpunkt ihrer wichtigsten Entdeckung befanden: Lise Meitner war wenige Monate zuvor von Berlin nach Stockholm geflüchtet. Mit dem sogenannten Anschluss Österreichs an NS-Deutschland im März 1938 wurde mit einem Mal ihr österreichischer Pass ungültig, als Jüdin konnte sie nicht mehr legal ausreisen. Ihre 1908 erfolgte Taufe schützte sie vor den NS-" Rassegesetzen" nicht.

Frisch wiederum war ganz damit beschäftigt, eine Stelle im sicheren Exil zu finden: Er war seit 1934 Mitarbeiter des Physikers und Nobelpreisträgers Niels Bohr in Kopenhagen, fühlte sich als Jude in Dänemark aber nicht mehr sicher. Nach den Weihnachtsfeiertagen kehrte er dennoch zurück und berichtete Bohr aufgeregt von der Entdeckung. "Kaum hatte ich zu sprechen begonnen, schlug er mit der Hand auf die Stirn und rief: Ach, was für Idioten wir doch waren! Ach, das ist ja wunderbar!" Dass die Kernspaltung die beiden fünf Jahre später in den USA bei einem geheimen militärischen Forschungsprojekt wieder zusammenführen wird, ahnten sie nicht.

Wiener Familie

Ihre Geburtsstadt Wien hatten Meitner und Frisch schon lange vor dem Aufstieg der Nationalsozialisten verlassen – beide in Richtung Deutschland. Meitner, 1878 in eine liberale jüdische Familie geboren, inskribierte 1901 – ein Jahr nach der Zulassung von Frauen zum Studium in Österreich – Mathematik und Physik an der Universität Wien, studierte begeistert bei Ludwig Boltzmann und wurde 1906 promoviert.

Schon 1907 ging sie nach Berlin, um Vorlesungen bei Max Planck zu hören. Dort traf sie auch Otto Hahn, mit dem sie die nächsten drei Jahrzehnte zusammenarbeiten sollte. 1922 habilitierte sie sich in Physik, 1926 wurde sie als erste Frau in Deutschland außerordentliche Professorin.

Frisch, der Sohn von Meitners älterer Schwester Auguste, kam 1904 zur Welt. Wie seine Tante promovierte auch er an der Universität Wien in Physik und ging anschließend für mehrere Jahre nach Berlin, ehe er in Hamburg eine Stelle bei Otto Stern erhielt. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 ging er zunächst nach London, 1934 dann nach Kopenhagen.

Manhattan-Projekt

Während Meitner die Jahre des Zweiten Weltkriegs in Schweden verbrachte, emigrierte Frisch 1939 nach England. Im Angesicht der Bedrohung durch die Nazis verfasste er mit dem Physiker Rudolf Peierls ein Papier, in dem erstmals der Bau einer Bombe mittels eines Uran-Isotops vorgeschlagen wird – also mit Atomen, die mehr Neutronen im Kern besitzen als gewöhnliches Uran. Die Arbeit bildete nicht nur die Grundlage der britischen Atombomben-Forschung, sondern auch des US-amerikanischen Manhattan-Projekts, an dem Frisch ab 1943 beteiligt war.

Um die physikalische Realisierung der Atombombe voranzutreiben, berief der charismatische US-Physiker Robert Oppenheimer im Juni 1942 eine Sommerkonferenz an der University of California in Berkeley ein. Die größte Herausforderung bestand im gezielten Start einer Kettenreaktion von Kernspaltungen – denn nur so konnte erreicht werden, enorme Mengen von Energie freizusetzen.

"Mutter der Bombe"

Die anwesenden Physiker erdachten zwei mögliche Vorgehensweisen dafür: durch Aufeinanderfeuern von Atomen ("Kanonenprinzip") oder durch Kompression ("Implosionsprinzip"). Ab September 1942 wurde schließlich bei Los Alamos in der Wüste von New Mexico mit dem Bau einer Forschungsstätte begonnen, in der die Atombombe konstruiert werden sollte.

Aus Sicht der Auftraggeber und des militärischen Leiters, General Leslie R. Groves, kam das Projekt im Sommer 1945 zum erfolgreichen Höhepunkt: Nazi-Deutschland, gegen das die Atombombe eigentlich hätte eingesetzt werden sollen, hatte da zwar schon kapituliert, aber um die Anstrengungen nicht völlig ins Leere laufen zu lassen, kam eine Bombe mit Implosionsprinzip namens "Fat Man" und eine mit Kanonenprinzip, genannt "Little Boy", gegen Japan zum Einsatz.

Unliebsamer Medienrummel

Bei den Abwürfen auf Hiroshima am 6. August und auf Nagasaki am 9. August 1945 wurden unmittelbar rund 100.000 Menschen getötet, mehr als doppelt so viele kamen noch durch Folgeschäden ums Leben – fast ausschließlich Zivilisten. Als die US-Presse im selben Jahr Lise Meitner zur "Mother of the Bomb" ("Mutter der Bombe") stilisierte, geschah dies "wider besseres Wissen und zweitens als Ablenkung", sagt Wissenschaftshistorikerin Vogt: "Da wurde eine instrumentalisiert, die wirklich nichts wusste und keine Geheimnisse erzählen konnte."

Meitner äußerte sich nach 1945 zwar kritisch zum Abwurf der Atombombe. Die weitverbreitete Behauptung, sie habe eine Mitarbeit am Manhattan-Projekt abgelehnt, sei aber schlichtweg falsch, sagt Vogt: "Sie ist einfach nicht gefragt worden." Warum, ist unklar, möglicherweise spielte ihr Alter eine Rolle – zu Beginn des Projekts war sie 62 Jahre alt. Wäre ein Angebot gekommen, hält Vogt es für sehr wahrscheinlich, dass Meitner angenommen hätte: "Alle Flüchtlinge hatten ein Interesse, den Alliierten gegen Hitler-Deutschland zu helfen, und hatten Angst, dass ihre exzellenten deutschen Physikerkollegen ebenfalls so eine Bombe entwickelten."

Meitner selbst wies den Rummel, der in den USA um ihre Person gemacht wurde, entschieden zurück. Der Saturday Evening Post sagte sie: "Ich habe keine Atombombe entworfen, ich weiß nicht einmal, wie eine aussieht." (David Rennert, Tanja Traxler, 24.12.2018)

Dieser Artikel ist ursprünglich am 23.12.2017 erschienen.