"Wenn es ein Problem gibt, sollte man zuerst prüfen, ob die bestehenden Gesetze nicht ohnedies ausreichen", sagt der scheidende Verfassungsgerichtshofpräsident Gerhart Holzinger.

Foto: Andy Urban

Das Verhältnis zwischen der Freiheit des Einzelnen und der Überwachung des öffentlichen Raumes ist für Höchstrichter Holzinger zentral.

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STANDARD: Sie haben sich wiederholt kritisch in der Frage der staatlichen Überwachung zu Wort gemeldet. Die neue Regierung will hier neue Möglichkeiten für die Behörden schaffen. Reichen die bestehenden Instrumente nicht aus?

Holzinger: Kommt es zu gesetzlichen Verschärfungen, dann wird der Verfassungsgerichtshof, so er angerufen wird, diese Regelungen prüfen. Was verfassungswidrig ist, wird auch aufgehoben – wie etwa schon die Vorratsdatenspeicherung. Ich habe den Eindruck, dass allzu schnell neue gesetzliche Regelungen kommen, um so vermitteln zu wollen, das bestehende Problem werde gelöst. Nur poppt nach einer gewissen Zeit der Beruhigung dieses Problem erneut auf. Was wird gemacht? Es folgt die nächste Regelung.

STANDARD: Gilt das etwa für das Asylwesen, das ständig novelliert wird?

Holzinger: In den Bereichen Asyl und Migration gibt es tatsächlich ein stakkatoartiges Aufeinanderfolgenlassen von Novellen. Das kann so nicht funktionieren, weil der Apparat, der diese Gesetze vollziehen soll, im Monats- oder Halbjahrestakt mit immer neuen Vorschriften konfrontiert ist. Mein Standpunkt ist: Wenn es ein Problem gibt, sollte man zuerst prüfen, ob die bestehenden Gesetze nicht ohnedies ausreichen. Konsequente Handhabung und Anwendung der Gesetze ist manchmal aber mühsamer als das Veröffentlichen von neuen Projekten der Parteien.

STANDARD: Asylwerber sollen laut türkis-blauen Plänen ihr Handy und ihr Bargeld bei Antragstellung abgeben, die ärztliche Schweigepflicht soll in bestimmten Fällen fallen - sehen Sie mehr Arbeit auf das Höchstgericht zukommen?

Holzinger: Konkrete Problemstellungen, die mit Sicherheit beim Verfassungsgerichtshof anhängig werden, kann ich nicht kommentieren. Nur so viel: Wir haben uns in den vergangenen zehn bis 15 Jahren sehr intensiv mit dem Asylwesen befasst und weitreichende Entscheidungen getroffen. Dadurch wurden der rechtspolitischen Gestaltung deutliche Grenzen gesetzt.

STANDARD: Fürchten Sie, dass beim Asylwesen mehr Fälle vom Verfassungsgerichtshof behandelt werden müssen?

Holzinger: Es ist offenbar beabsichtigt, die Möglichkeit, den Verwaltungsgerichtshof in Asylsachen anzurufen, wieder einzuschränken. Ein ähnliches System hat es zwischen 2008 und 2014 gegeben, das hat zu einem dramatischen Anstieg der Fälle bei uns geführt. Ich sehe nicht ein, warum ausgerechnet für ein bestimmtes Verwaltungsrechtsgebiet – das Asylrecht – der Rechtszugang zum Verwaltungsgerichtshof nicht in gleicher Weise gegeben sein soll, wie bei anderen Rechtsgebieten.

STANDARD: Was ist die Erklärung dafür?

Holzinger: Vielleicht erhofft man sich, dass es so weniger Beschwerden gibt. Wenn das tatsächlich das Motiv sein sollte, ist das eine Fehleinschätzung.

STANDARD: Sie haben bereits die Aufhebung der Vorratsdatenspeicherung angesprochen. Im neuen Sicherheitspaket der türkis-blauen Regierung steht auch die Überwachung der internetbasierten Kommunikation zur Debatte.

Holzinger: Die Vorratsdatenspeicherung war für uns Höchstrichter ein erhellendes Erlebnis. Die Frage war: Ist diese Speicherung unentbehrlich, um gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität zu kämpfen? Von 200 Fällen, in denen die Vorratsdatenspeicherung zur Anwendung kam, hatten nur zwei etwas mit Terrorismusbekämpfung zu tun – und das nur entfernt. Dass diese Regelung unentbehrlich wäre, konnten wir daraus nicht schließen.

STANDARD: Als Argument für mehr Überwachung gilt, der Staat müsse dieselben technischen Möglichkeiten haben wie Verbrecher.

Holzinger: Ich bin kein Experte auf dem Gebiet der öffentlichen Sicherheit. Ich sehe aber, dass ständig neue Verschärfungen diskutiert werden. Das ist gesetzgeberischer Aktionismus. Man muss sich nur vor Augen halten, wie oft die einschlägigen Gesetze in einem Zeitraum von zehn Jahren geändert worden sind. Das kann es doch nicht sein!

STANDARD: Sie kritisierten kürzlich die Neuerungen im Bereich direkte Demokratie – etwa, dass die Hürde für eine verpflichtende Volksabstimmung mit 900.000 Unterschriften zu hoch ist. Umgekehrt gefragt: Wäre eine niedrige Hürde nicht sehr gefährlich?

Holzinger: Natürlich gibt es auch hier Anlass, skeptisch zu sein. Mich hat die Brexit-Entscheidung in Großbritannien nachdenklich gestimmt. Auf der anderen Seite muss ich sagen: Demokratie kann ohne Demokraten nicht leben. Daher ist die direkte Demokratie als Ergänzung zum Parlamentarismus etwas, was gestärkt gehört. Am wichtigsten wäre aber eine Reform des Wahlrechts im Sinne einer stärkeren Personalisierung. Das Hauptproblem in Österreich ist, dass das stark ausgeprägte Listenwahlrecht dazu führt, dass die Nähe der Mandatare zu den Wählern nicht im wünschenswerten Ausmaß gegeben ist.

STANDARD: Sind Sie für ein Stimmensplitting, also dass man einer Partei und einer Person unabhängig davon, seine Stimme geben kann?

Holzinger: Welches Modell gewählt wird, ist eine sekundäre Frage. Auch hier habe ich ein Déjà-vu-Erlebnis. Ich kann mich erinnern, dass schon in den 1960er-Jahren von den damals beiden noch großen Parteien all diese Fragen thematisiert worden sind. Viele der Autoren sind mittlerweile gestorben. Ich kann nur hoffen, dass man endlich mit der Umsetzung beginnt.

STANDARD: Dass in Österreich die "Ehe für alle" kommt, geht auf einen Spruch des Höchstgerichts zurück. Ist das ein Beispiel dafür, dass sich die Politik vor einer Entscheidung drückt und das Höchstgericht heikle gesellschaftspolitische Entscheidungen treffen muss?

Holzinger: Wir suchen uns den Zeitpunkt nicht aus. Wir können nur dann entscheiden, wenn sich jemand an uns wendet. Und dann müssen wir entscheiden. Es ist weltweit so, dass in der Gesellschaft umstrittene Fragen gern den Gerichten überlassen werden, weil sich die Politik nicht mit einem Teil der Bevölkerung in Widerspruch setzen will.

STANDARD: Bei der Mindestsicherung will die Regierung drastische Veränderungen, nicht alle Bundesländer wollen folgen. Rechnen Sie damit, dass das in dieser Frage auch der Fall sein wird?

Holzinger: Wir haben derzeit aus drei Ländern – Niederösterreich, Tirol und Vorarlberg – Fälle anhängig, die Einschränkungen im Rahmen der Mindestsicherung zum Gegenstand haben. Ich gehe davon aus, dass auch im Zuge der Neuregelungen der Verfassungsgerichtshof angerufen wird.

STANDARD: Aber auch hier wartet die Politik mal ab und schaut, wie das Höchstgericht entscheidet.

Holzinger: Ja sicher, weil wir mit Entscheidungen vor allem im Gesetzesprüfungsverfahren eine Orientierungsfunktion für die Politik haben. Das gilt für Fragen der Mindestsicherung, aber auch wenn es um das Spannungsverhältnis zwischen der Freiheit des Einzelnen und der Überwachung des öffentlichen Raumes geht. Wenn wir eine Entscheidung über die Mindestsicherung in Niederösterreich treffen, hat das natürlich Signalwirkung für die künftige Gesetzgebung. (Marie-Theres Egyed, Peter Mayr, 28.12.2017)