Blinde und sehende Tänzer trainieren in Fernanda Bianchinis Ballettschule.

Foto: Danilo Ramos

Körperhaltung, Arabesque und dann Penchée." Fernanda Bianchini geht an der Ballettstange entlang und korrigiert sanft die Positionen ihrer Schützlinge. Sie legt die Hand auf den Rücken für mehr Spannung, richtet die Haltung der Füße und lobt die synchronen Bewegungen der Mädchen. "Und jetzt mit Kraft, Sprung", ruft sie. Während sie spricht, übersetzen ihre Hände in Gebärdensprache. Vivian ist elf Jahre und taub. Sie achtet auf jede Geste. Die anderen Mädchen sind blind, haben die Positionen durch Ertasten gelernt. Die Klaviermusik gibt ihnen den Rhythmus vor.

Vor mehr als 20 Jahren hat Bianchini angefangen, blinde Mädchen in klassischem Ballett zu unterrichten. Kaum einer glaubte, dass dies möglich ist. Auch für Bianchini war es ein Experiment, heute ist es Lebensaufgabe und eine Erfolgsgeschichte zugleich. "Eine Ballerina muss immer nach den Sternen greifen, auch wenn sie diese nicht sehen kann", sagt die 39-Jährige, "bei uns gibt es kein Nein und auch keine Grenzen." Diese Ballettgruppe ist die einzige weltweit, die aus professionellen blinden Tänzerinnen besteht und regelmäßig auftritt. Der Nussknacker, Dornröschen und Don Quixote gehören zu ihrem Repertoire.

Besseres Körpergefühl

"Ich lerne hier viel mehr, als ich geben kann", sagt Bianchini, die aus São Paulo stammt. Ihre Eltern arbeiteten als Freiwillige in einer Einrichtung für Blinde, in der auch sie oft war. "Ich habe seit meiner Kindheit Ballett gemacht und hatte deshalb eine gut Haltung", erzählt sie. Blinde jedoch gingen oft gebückt, auch aus Angst, sich zu stoßen. "Die Leiterin der Einrichtung hat mich deshalb gefragt, ob ich nicht Tanz unterrichten möchte, damit sie ein besseres Körpergefühl bekommen", erinnert sich Bianchini, die damals 15 war.

Cia Ballet de Cegos

Inzwischen hat Bianchini eine eigene Schule gegründet, in der Sehbehinderte, Blinde, aber auch Gehörlose und geistig Behinderte zusammen tanzen. Für die Arbeit mit ihren blinden Tänzerinnen hat sie Stück für Stück eine eigene Unterrichtsmethode entwickelt und immer wieder verfeinert. 2005 schrieb sie ihre Abschlussarbeit in Sportwissenschaften darüber.

Viel Vertrauen

In der Ballettstunde hocken Mariane und Jessica vor ihrer Lehrerin und ertasten die Ausführung der Position – ihre Finger gleiten an den gestreckten Fußspitzen entlang bis hin zum angewinkelten Knie. Die Choreografie ist anspruchsvoll, Bianchini achtet auf eine akkurate Ausführung und auf Eleganz der Figuren. "Wenn ich unterrichte, muss ich die Augen schließen, um in ihre Welt einzutauchen. Erst danach kann ich meine präsentieren", sagt sie. Um Sprünge und Hebefiguren einzustudieren, brauchen die Ballerinen viel Vertrauen. Der 23-jährige Anderson hilft dabei. Er ist Tänzer und hat keine Sehbehinderung. Sanft hält er die Hand der blinden Mariane und übt geduldig jede einzelne Bewegung des Sprungs mit ihr – so lange, bis es federleicht und selbstverständlich aussieht. "Nein, Angst hinzufallen habe ich nicht", sagt Mariane. Die Dimensionen der Bühne sind in ihrem Kopf abgespeichert.

Als Mariane vor fünf Jahren das erste Mal in die Schule kam, saß sie aufgrund einer chronischen Muskelkrankheit noch im Rollstuhl. Seit ihrer Geburt hat sie eine starke Sehschwäche, kann nur Umrisse erkennen. An der Ballettstange konnte sie sich nicht allein halten, ihre Beine knickten immer wieder weg. Doch durch tägliches Training habe sie Kraft und Körperspannung bekommen, erzählt die 31-Jährige. Tanzen ist für sie immer noch wie ein Wunder. "Hätte ich das Ballett nicht, würde ich noch im Rollstuhl sitzen und nur zu Hause sein", meint sie. Zwei Stunden braucht sie jeden Tag, um in die Ballettschule zu kommen. Mariane wohnt im äußersten Süden der 18-Millionen-Metropole São Paulo. "Das Tanzen ist nicht die größte Herausforderung, sondern der Weg dorthin", sagt sie lachend.

"Raum nur für uns"

"Die Schule ist ein Raum nur für uns. Hier gibt es keine Ausgrenzung und keine Vorurteile", sagt auch Jessica, die zu den professionellen blinden Tänzerinnen gehört und schon bei den Paralympischen Spielen 2012 in London aufgetreten ist. Sie strahlt, wenn sie von den Auftritten erzählt. "Ich kann es einfach spüren, ob eine Aufführung gelingt und ob das Publikum uns mag." Das Schwierigste seien für sie die Drehungen und Pirouetten. "Eine sehende Ballerina hat immer einen fixen Punkt auf der Bühne, den haben wir nicht", sagt sie. Deshalb sind kleine Hilfestellungen notwendig. Durch Fingerschnippen gibt die Tanzlehrerin den Mädchen die Richtung vor.

Die Ballettschule ist in einem unscheinbaren, gelbgestrichenen Haus im Stadtteil Vila Mariana untergebracht. "Blinde werden in Brasilien immer noch als Last und von der Gesellschaft als störend empfunden", sagte Physiotherapeut Everton Bispo, der seit 15 Jahren als Freiwilliger in der Schule arbeitet. Inklusion gebe es nur in wenigen, meist privaten Initiativen. Die Ballettschule sei deshalb ein geschützter Raum. "Die Schüler bekommen hier Anerkennung, sie werden viel selbstbewusster und schließen Freundschaften", sagt er. "Hier geht es nicht nur ums Tanzen", betont auch Bianchini. "Ich möchte wirklich allen Schülern mit auf den Weg geben, dass sie niemals aufhören sollen, für ihre Träume zu kämpfen."

Mehr als 350 Mädchen und Jungen mit einer Behinderung haben in der Ballettschule in den vergangenen Jahren das Tanzen gelernt. Der Unterricht ist kostenlos, die meisten Schüler kommen aus Familien, die sich Ballettstunden nicht leisten können. Die Schule lebt ausschließlich von Spenden und den Auftritten. Mit den Einnahmen werden die Lehrer bezahlt. Bianchini arbeitet noch in ihrer eigenen Physiotherapiepraxis. Auch mit Einnahmen daraus finanziert sie die Schule. (Susann Kreutzmann, 7.1.2018)