Foto: Selma Tahirovic

STANDARD: Wenn man in Ihrem Wartezimmer sitzt, hört man viele verschiedene Sprachen. Angehörige wie vieler Nationen behandeln Sie durchschnittlich in Ihrer Ordination?

Halmagyi-Steinböck: Das kann ich leider schwer beantworten, doch in den letzten 20 Jahren habe ich ein großes Spektrum an Patienten behandelt. Da waren unter anderem viele europäische Länder dabei, aber auch viele andere Nationen. Hier muss man natürlich bedenken, dass der prozentuelle Anteil der Migranten auf dem Land wesentlich niedriger ist als in der Stadt.

STANDARD: Wie sieht die Behandlung aus, wenn die Patienten kein Deutsch können?

Halmagyi-Steinböck: Es kommt durchaus noch vor, dass Kinder als Übersetzer eingesetzt werden, da sie die deutsche Sprache besser beherrschen. Doch meistens werden Patienten auch von richtigen Dolmetschern begleitet – beispielsweise Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion, die auf die Unterstützung der Hollabrunner Einrichtung Frauen für Frauen angewiesen sind. Ich behandle als Schulärztin auch Flüchtlinge. Diese können sich zum Teil auch sehr gut auf Deutsch ausdrücken und fungieren dann oftmals als Übersetzer für andere Patienten. In den letzten Jahren sind auch viele ausländische Ärzte nach Niederösterreich gekommen – also falls sprachliche Probleme aufkommen, hat man ein tolles Netzwerk, an welches man sich richten kann.

STANDARD: Sie selbst haben ungarische Wurzeln. Ziehen es Ihrer Erfahrung nach die Patienten vor, in ihrer Muttersprache zu kommunizieren?

Halmagyi-Steinböck: Es ist bestimmt sehr wichtig für die Patienten, in ihrer eigenen Muttersprache zu kommunizieren. Für viele würde es so viel einfacher sein, ihre Beschwerden zu erklären – je nachdem, welche Art von Krankheit vorhanden ist. Natürlich kommen auch Menschen in meine Praxis, die mich aufgrund meines Namens gefunden haben und dann auf Ungarisch mit mir reden möchten. Oftmals sind sie dann etwas enttäuscht, wenn hier die Kommunikation nicht reibungslos funktioniert. Da ich in Wien geboren wurde, kann ich nicht sehr viel auf Ungarisch sagen. Ich verstehe die Sprache wesentlich besser, als ich sie spreche.

STANDARD: Kennen Sie denn Ärzte, die besonderen Wert auf Fremdsprachen legen und ihren Patienten das auch anbieten?

Halmagyi-Steinböck: Ich denke schon, dass viele Mediziner auf Fremdsprachen achten. Ich habe in der Schule Englisch und Französisch gelernt, und obwohl ich die Sprachen nicht perfekt beherrsche, hilft es oftmals dabei, Vertrauen aufzubauen.

STANDARD: Apropos Behandlung: Sind Sie der Meinung, dass Migranten im Vergleich mit einheimischen Patienten viel später eine Arztpraxis aufsuchen?

Halmagyi-Steinböck: Ich denke, hier gibt es keinen Unterschied. Es gibt in jeder Nation Menschen, die ihre Symptome ignorieren, und wiederum Menschen, die ihre Beschwerden stärker wahrnehmen als nötig. Es gibt überall übervorsichtige Patienten oder eben Arztverweigerer – ganz egal, welcher Herkunft diese sind.

STANDARD: Wie sieht es in puncto Medikamentenkunde aus? Sind Ihrer Erfahrung nach Österreicher medikamentenscheuer als Migranten?

Halmagyi-Steinböck: Auch hier gibt es wieder keinen Unterschied, der die Herkunft betrifft. Es gibt Personen, die froh sind, keine Tabletten nehmen zu müssen, und auch Menschen, die enttäuscht sind, wenn sie kein Rezept bekommen. Ich bevorzuge eine natürliche Behandlungsweise und versuche so wenige Medikamente wie möglich zu verschreiben. Ich passe mich an jedes Individuum und dessen Bedürfnisse an. So kommt es doch ab und zu vor, dass ich Patienten Rezepte für nicht rezeptpflichtige Medikamente verschreibe, um ihnen die Sicherheit zu geben, ihnen geholfen zu haben. Es gibt aber auch Personen, die sich schon selbst mit gewissen Mitteln behandelt haben und nur eine Bestätigung hören möchten, dass sie alles richtig eingenommen haben.

STANDARD: In Bezug auf ältere Generationen: Neigen österreichische Pensionisten eher dazu, Ärzte aus Einsamkeit aufzusuchen?

Halmagyi-Steinböck: Es kommt darauf an. Besonders bei bettlägerigen Patienten, die ich alle vier Wochen besuche, ist meine Anwesenheit wesentlich mehr als nur eine Routineuntersuchung. Für manche Menschen entwickelt sich das zum Highlight der Woche, wenn die Frau Doktor kommt. Es passiert in ihrem Leben so wenig, dass mein Besuch ein besonderer Termin für sie ist. Es hängt definitiv mit ihrer Einsamkeit zusammen, und so erzählt mir diese Art von Patienten auch viel über ihr Privatleben. Dies verschafft mir den Vorteil, sie besser kennenzulernen, doch leider lässt unser System nicht viel Raum für solche Dinge. Unser Bezahlungssystem ist auch insofern ausgerichtet, dass man sehr schnell sehr viele Patienten abarbeiten soll.

STANDARD: Es wird eine Behandlung wie auf dem Fließband durchgeführt?

Halmagyi-Steinböck: Genau, und das ist auch für uns behandelnde Ärzte nicht besonders erfüllend. Obwohl es manchmal meinen Zeitrahmen sprengt, spreche ich bei meinen Patienten oft Themen an, die ich für besonders wichtig halte. Klar geht diese zeitliche Zuwendung auf Kosten der Patienten im Wartezimmer, doch für eine gute Behandlung ist dies oftmals notwendig. Jeder wird mal mehr oder weniger die Zeit seines Arztes beanspruchen, deswegen gleicht sich das in meinen Augen wieder aus.

STANDARD: Doch wie ticken hier die Menschen mit Migrationshintergrund? Sind ältere Migranten eher in der Begleitung ihrer Familie?

Halmagyi-Steinböck: Ja, das ist wirklich so. Neben der Tatsache, dass die Großmutter ihr Enkelkind oft als Dolmetscher benötigt, braucht sie es auch als Stütze zum Gehen. Hier ist es auch interessant, die einzelnen Kulturen zu betrachten, da es in Großfamilien doch üblich ist, so ein enges Verhältnis über die Generationen hinweg bestehen zu lassen. Im Vergleich zu österreichischen Pensionisten ist hier definitiv ein Unterschied zu verzeichnen. Lustig ist hier jedoch die Tatsache, dass Migrantenkinder oft sehr früh allein zum Arzt gehen. Während der österreichische Nachwuchs zum Teil noch bis zur Volljährigkeit zum Doktor begleitet wird, müssen Kinder mit Migrationshintergrund allein im Wartezimmer sitzen. Einheimische Kinder werden sehr stark behütet, während Migrantenkinder dazu animiert werden, selbstständiger zu leben.

STANDARD: Was geschieht, wenn Sie Patienten überweisen müssen? Greifen Sie auf ein bestimmtes Netzwerk von Medizinern zurück?

Halmagyi-Steinböck: Ein Netzwerk ist bei mir auf jeden Fall vorhanden. Das ist der Vorteil einer kleinen Stadt wie Hollabrunn, da alle Fachärzte miteinander verbunden sind. Ich habe ein sehr gutes Netzwerk und auch sehr gute Verbindungen in das lokale Krankenhaus. Auch mit niedergelassenen Fachärzten besteht noch Kontakt. Vor ein paar Jahren war ich Bezirksärztevertreterin und habe dadurch noch mehr Kontakte knüpfen können. Es ist sehr wichtig, Beziehungen in der Community zu haben, da meist schon eine telefonische Beratung mit einem Facharzt viel weiterhelfen kann.

STANDARD: Gehen wir doch etwas mehr ins Detail. Da Sie ja so viele verschiedene Menschen behandeln – welche Nation ist Ihrer Erfahrung nach die "wehleidigste"?

Halmagyi-Steinböck: Das ist eine knifflige Frage. Aber ich denke, diese Eigenschaft kann man nicht an eine bestimmte Nation festnageln. Auch wenn es viele Klischees zu jeweiligen Nationen gibt, wie Schmerz empfunden wird. Es gibt für jedes Individuum eine eigene Schmerzwahrnehmung, die von Erziehung und eigener Erfahrung abhängig ist. Natürlich kommen oft Patienten, die aus einer harmlosen Blutabnahme ein größeres Drama machen – doch solche Personen sind in allen Nationalitäten vertreten. Und dieses "Wehleidigsein" kommt auch bei beiden Geschlechtern vor. Oft wird hier der allseits bekannte Männerschnupfen angesprochen, doch es gibt unter anderem auch Frauenschnupfen, der sehr dramatisch verlaufen kann. Ein starkes Leiden unter banalen Sachen kann unabhängig von der Herkunft bei jedem beobachtet werden. (Selma Tahirovic, 12.1.2018)