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Zwar patrouillieren durch Brasiliens Metropolen schwer bewaffnete Polizisten und Soldaten, doch erhöht das nicht die Sicherheit auf den Straßen.

Foto: REUTERS/Ricardo Moraes

Das neue Jahr begann in Brasiliens nordöstlichem Bundesstaat Rio Grande do Norte so, wie das alte geendet hat: mit Gewaltexzessen und steigenden Mordraten. Seit Mitte Dezember streikt die Polizei wegen ausbleibender Lohnzahlungen. Chaos auf den Straßen, geplünderte Geschäfte und ein Hochschnellen der Gewalt sind die Folge. Die Mordrate stieg in den letzten beiden Dezemberwochen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 51 Prozent: Mehr als 100 Menschen wurden umgebracht. Die Regionalregierung musste den Ausnahmezustand ausrufen und das Militär zu Hilfe holen. Jetzt patrouillieren zwar schwer bewaffnete Soldaten durch die Hauptstadt Natal, doch Sicherheit herrscht keine. Die einst bei Touristen beliebte Metropole ist zur gefährlichsten Stadt Brasiliens geworden.

Die Stimmung ist im ganzen Land explosiv. Seit einigen Jahren steigen die Mordraten kontinuierlich an. Mehr als 61.000 Menschen wurden im vergangenen Jahr umgebracht, so eine Schätzung des auf öffentliche Sicherheit spezialisierten Forschungsinstitutes Fórum Brasileiro de Segurança Pública (FBSP). Damit stellt das Land einen neuen Negativrekord auf. Rein rechnerisch werden sieben Menschen pro Stunde umgebracht. Brasilien repräsentiere 2,8 Prozent der Weltbevölkerung, gleichzeitig geschehen hier aber 13 Prozent aller Morde, erklärt der Präsident des FBSP, Renato Sérgio de Lima.

Fünfjähriger erschossen

Bereits in der Silvesternacht wurde ein fünfjähriger Junge in São Paulo durch eine verirrte Kugel am Kopf getroffen. Die Eltern brachten den Jungen noch in ein öffentliches Spital, doch es gab keinen OP-Platz. Fünf Stunden telefonierten sie mit weiteren Krankenhäusern, um ihr Kind versorgen zu lassen. Am Abend erlag der Fünfjährige seinen Verletzungen.

Im Bundesstaat Goiás kam es zum Jahreswechsel zu einer Gefängnisrevolte zwischen rivalisierenden Gangs. Neun Häftlinge starben. Rund 250 Insassen nutzten das Chaos zum Ausbruch, etwa 100 von ihnen sollen noch immer frei sein. Auch in anderen Haftanstalten kam es zu Revolten und Geiselnahmen. Seit einem Jahr nehmen die brutalen Revierkämpfe zwischen den größten Mafiaorganisationen Erstes Hauptstadtkommando (PCC) aus São Paulo und dem Comado Vermelho (Rotes Kommando, CV) aus Rio de Janeiro zu.

Überfüllte Gefängnisse

Hinzu kommen die menschenunwürdigen Haftbedingungen: Rund 711.000 Gefangene gibt es in Brasilien, aber nur rund 354.000 Plätze in größtenteils maroden alten Haftanstalten. Das Problem ist lange bekannt, doch getan hat sich nichts.

Vor einem Jahr nach einer Serie von blutigen Gefängnisaufständen versprach Staatspräsident Michel Temer einen Nationalen Sicherheitsplan und den Bau neuer Haftanstalten mit 10.000 Plätzen. Bislang hat noch kein einziger Neubau das Papier verlassen. Experten warnen vor einer tickenden Zeitbombe. "Es wird weitere Revolten geben", sagt der auf organisierte Kriminalität spezialisierte Staatsanwalt Lincoln Gakiya in São Paulo. Die Lage sei sehr angespannt.

100 Milliarden Euro Verlust

Auch wirtschaftlich hat die ausufernde Gewalt fatale Folgen: Nach einer Untersuchung des Ökonomen Daniel Cerqueira vom Wirtschaftsforschungsinstitut Ipea in São Paulo sinkt das Bruttoinlandsprodukt durch die Ausgaben zur Bekämpfung der Gewalt um sechs Prozent, was einem Wert von etwa 372 Milliarden Reais oder 100 Milliarden Euro entspricht. Allein durch Morde gingen dem Land laut ökonomischen Modellrechnungen 2,3 Prozent der Wirtschaftsleistung verloren. "In der öffentlichen Sicherheit ist Brasilien wie ein führerloses Schiff", sagt Cerqueira. Einen deutlichen Zusammenhang sieht der Ökonom zwischen der Zunahme der Gewalt und einer leichten Verfügbarkeit von Waffen. "Wenn ein Prozent mehr Waffen in Umlauf sind, steigt die Mordrate um zwei Prozent", betont er. Den Kongress scheint das wenig zu beeindrucken: Er diskutiert derzeit ein Gesetz zur weiteren Liberalisierung des Waffenbesitzes.

"Die brasilianische Gesellschaft ist extrem gewalttätig", sagt der Soziologe Lima. Das gängige Verständnis sei, Gewalt werde nur mit Gewalt gelöst. Opfer seien vor allem die ärmere Bevölkerung in der Peripherie der Städte. Gleichzeitig sind diese Menschen anfällig für autoritäre Politiker, sagt Lima und nennt das einen "Hilferuf": "Die Menschen mit den wenigsten Rechten befürworten aus Angst eine repressive Politik."

Aktuell spiegelt sich diese Tendenz in der Debatte über die Wiedereinführung der Todesstrafe wider. Nach einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Datafolha befürworten das 57 Prozent. Die Mehrheit der Befürworter ist männlich und hat ein geringeres Einkommen. (Susann Kreutzmann aus São Paulo, 11.1.2018)