Was steckt dahinter, wenn ein vierjähriges Kind unentwegt quengelt?

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Familientherapeut, Autor und STANDARD-Kolumnist Jesper Juul.

Foto: family lab

Diese Serie entsteht in Kooperation mit Familylab Österreich.

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Frage

Ich schreibe Ihnen, weil ich völlig verzweifelt und überfordert mit meiner vierjährigen Tochter bin und sehr dringend eine Lösung brauche. Eigentlich wollte ich nie Kinder. Die Schwangerschaft war mit viel Traurigkeit und Unsicherheit verbunden. Meine Tochter war ein Schreibaby. Bei ihrer Geburt war ich noch verheiratet, trennte mich allerdings von ihrem Vater, als sie zwei Jahre alt war. Wir haben nach wie vor ein gutes, freundschaftliches Verhältnis, und die beiden verbringen viel Zeit miteinander.

Meine Mutter, selbst Alleinerzieherin, versucht immer noch mein ganzes Leben zu organisieren und zu dominieren. Was ihr Enkelkind betrifft, so ist sie diejenige, die Erziehungsbücher liest oder an Elterngruppen teilnimmt und mir zu verstehen gibt, was gut für meine Tochter sei. Sie ruft permanent an und fragt, wie es meiner Tochter geht. Mich treibt das in den Wahnsinn.

Gefühl der Provokation

Die Beziehung zu meiner Tochter ist extrem nervenzehrend. Einerseits sagt sie mir, dass sie mich hasst und lieber bei ihrem Papa oder ihrer Oma wohnen möchte, andererseits quengelt sie zu Hause den ganzen Tag und möchte meine Aufmerksamkeit. Wenn sie meine Aufmerksamkeit hat, so fühle ich mich durch ihr Verhalten unentwegt provoziert: Sie spricht ständig dagegen, mag nichts von dem annehmen, was ich ihr sage, egal worum es geht.

Ich frage mich, ob es tatsächlich sein kann, dass ein Kind seine Mutter nicht mag, und warum sie so stur ist und mich ständig provoziert. Manchmal frage ich mich, ob ich vielleicht zu viele Fehler gemacht habe und unsere Liebe für immer zerstört ist. Ich würde so gerne die Mama sein, die sie braucht und mit der es ihr gutgeht.

Antwort

Es kann sein, dass Sie meine Antworten nun etwas überraschen, vielleicht geben Sie ihnen beiden dennoch eine Chance? Zwischen den Zeilen lese ich, dass es um mehr geht als "nur" darum, ein vierjähriges Mädchen großzuziehen.

Fürs Erste möchte ich Ihnen die zwei wesentlichen Themen im Zusammenhang mit den Konflikten und dem Verhalten Ihrer Tochter aufzeigen. Vielleicht sind die folgenden Vorschläge hilfreich für Sie.

Grenzen aufzeigen

Das wirklich dominierende Thema in Ihren Beziehungen zu anderen ist, dass Sie keine gesunden, persönlichen Grenzen zeigen. Ich habe den Eindruck, dass jeder – insbesondere Menschen, die Sie lieben – über Sie bestimmen kann und damit Ihre Grenzen massiv verletzt. Um Ihretwillen müssen Sie lernen "Ja" und "Nein" zu sagen! Ganz besonders zu Ihrer Mutter, die Ihnen während Ihres Aufwachsens offensichtlich jeglichen Selbstrespekt und jegliches Selbstgefühl genommen hat. Sie waren immer gehorsam, mittlerweile scheinen Sie hin und wieder ein Stück davon zurückerobern zu wollen.

Ihre Tochter macht genau das Gegenteil. Sie fordert jede Stunde des Tages Ihr Verhalten, Ihre Regeln und einiges mehr heraus. Solange Ihre Mutter und auch Ihre nahen Freunde Sie weiterhin respektlos behandeln dürfen, ist Ihre Tochter verloren. Verloren in dem Sinne, dass Sie nicht weiß, was nun richtig oder falsch ist.

Von Kindern lernen

Das zweite und andere Thema ist die Geschichte der Beziehung zu Ihrer Tochter. Sie erscheint mir von Anfang an emotional unklar und distanziert, was auch heute in mancher Weise noch spürbar ist. Noch bevor Ihre Tochter geboren wurde, konnte sie diese Ambivalenz in Ihnen wahrnehmen. Aber weil sie eine Kämpferin ist, hat sie vom ersten Moment an versucht Sie durchzurütteln. Ihre Nachricht an Sie war und ist: "Ich bin nicht glücklich, und ich möchte, dass Du etwas dagegen tust." Sie ist frustriert und fühlt sich alleingelassen. Die Lösung liegt in Ihnen. Sie können nun noch länger zusehen, wie Ihre Tochter Ihre gewohnten Überlebensstrategien infrage stellt – oder Sie lassen sich auf die Beziehung zu Ihrer Tochter ein und entwickeln eine neue Lebensstrategie. Genau das erlebt ein Großteil der Eltern. Die einen sprechen weiter über ihre Kinder, die anderen lassen sich inspirieren und lernen von ihnen. (Jesper Juul, 14.1.2018)