Sieben Jahre nach der Revolution ist in Tunesien der soziale Protest wieder auf der Straße angekommen. So plötzlich wie die Demonstrationen am vorletzten Wochenende nach der gewaltsamen Auflösung eines Oppositionstreffens starteten, so unübersehbar ist die Unzufriedenheit in Tunesien seit Monaten.

Bereits vor einem Jahr konnte man in Tunesien, vor allem in Gesprächen mit Jugendlichen, immer wieder hören, dass sich seit der Revolution nichts verbessert habe. Besonders die materiellen Lebensbedingungen haben sich seit 2011 noch verschärft. Preise für Grundnahrungsmittel, insbesondere für Fleisch, sind seit der Revolution drastisch gestiegen, während die Löhne bestenfalls stagnieren. Der Tourismus als einer der wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes ist seit der Revolution weitgehend eingebrochen und Alternativen dazu konnten sich nicht etablieren.

Seit mehr als einer Woche protestieren die Menschen auf den Straßen von Tunis.
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Insbesondere die Preise für Fleisch sind in den letzten Monaten drastisch gestiegen.
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In den bisherigen Tourismusregionen, wie hier in Djerba, fehlen die Gäste und damit auch Jobs.
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Tausende Tunesier gingen zum IS

Gerade als sich 2015 der Tourismus nach der Revolution zu erholen begann, hatte der Terrorangriff auf das Nationalmuseum von Bardo am 18. März 2015, bei dem 24 Menschen, darunter 20 Touristen, ums Leben kamen, alle Hoffnungen auf eine Erholung des Tourismus beendet. Der IS, zu dem sich die Angreifer bekannten, hatte damit auch in Tunesien ein starkes Lebenszeichen von sich gegeben. Junge Tunesier zählen zur größten Gruppe, die in Syrien und im Irak in den Reihen des IS kämpfen. Tausende Tunesier hatten sich seit 2013 zur Terrorgruppe durchgeschlagen. Die relative Stabilität Tunesiens verdankt das Land nicht zuletzt diesem "Export" des eigenen extremistischen Nachwuchses.

Gedenktafel für die Opfer des Anschlags vom 18. März 2015 im Eingangsbereich des Nationalmuseums.
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Schleichende Rückkehr zum Autoritarismus

Die relativ konstruktive Zusammenarbeit von Gewerkschaften und Regierung und der beiden größten Parteien des Landes – der von den Muslimbrüdern gegründeten Ennahda, und der überwiegend von Vertretern des alten Regimes dominierten Nidaa Tounes – hat Tunesien bislang zum einzigen Land gemacht, in dem der Arabische Frühling eine halbwegs demokratische und stabile Entwicklung ermöglichte. Kritiker merkten jedoch an, dass bereits seit dem Regierungswechsel von Ennahda zu Nidaa Tounes 2014, der Einfluss der Vertreter des alten Regimes wieder gewachsen wäre, und Polizei, Geheimdienste und Militär wieder an Bedeutung gewinnen. Das Spitzelwesen, das unter dem Regime von Zine el-Abidine Ben Ali blühte, begann wieder aufzuleben, und so fürchten immer mehr Tunesier eine schleichende Rückkehr zu autoritären Verhältnissen.

Der Revolution wird nur noch an einigen Gedenkorten in Tunis gedacht.
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"Worauf warten wir?"

So ist es auch diesmal eine sehr heterogene Masse an jungen Tunesiern, die auf die Straße geht. Neben sozial marginalisierten Schichten, die vor allem gegen ihre materiellen Lebensverhältnisse protestieren, haben sich auch Studenten den Protesten angeschlossen, die die demokratischen Errungenschaften der Revolution in Frage gestellt sehen. Insgesamt dominieren bisher allerdings soziale Forderungen die Bewegung.

Auslöser der Bewegung waren die massiven Preiserhöhungen für Nahrungsmittel und damit eng verbunden die Verabschiedung eines neuen Finanzgesetzes, mit dem die Regierung einen 2,9-Milliarden-Dollar-Kredit des International Währungsfonds (IWF) erhalten soll. Die Bedingungen des IWF sehen harte Kürzungen im Sozialbereich vor, gegen die seit Angang Jänner protestiert wird. Unter dem Slogan "Fech Nstenew?" ("Worauf warten wir?") hat sich eine sehr breite Koalition zusammengefunden, die nach der Auflösung eines Treffens der Oppositionsgruppen seit dem Wochenende zunehmend auf der Straße präsent war.

Straßenkämpfe auch bei Nacht liefern sich Demonstranten und die Polizei.
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Viele junge Tunesier, wie diese Schüler in Zarzis, haben trotz Bildung wenig Perspektiven.
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Erstes Todesopfer

Die Regierung setzt auf harte Polizeimaßnahmen gegen die Proteste. Bereits am ersten Wochenende der Demonstrationen kam es zu ersten Straßenschlachten von Jugendlichen mit der Polizei. In der Nacht auf vergangenen Dienstag war bei Auseinandersetzungen mit dem Demonstranten Khamis bin Sadiq al-Yafrani das erste Todesopfer zu beklagen. Die Regierung heizt damit die Demonstrationen weiter an.

Auch wenn sich bislang noch keine klare politische Linie oder Organisation der Demonstrationen abzeichnet und die Linke bei den letzten Wahlen 2014 stark verloren hat, so könnte sich aus dieser Bewegung durchaus eine starke soziale Protestbewegung bilden, die sowohl gegen die Restauration des alten Regimes durch die derzeitige Regierung, als auch gegen die Ennahda gerichtet ist. In welche Richtung sich eine solche Protestbewegung entwickeln würde, ist bislang offen. An der Wahlurne hatten 2014 der sozialdemokratisch bis sozialliberal ausgerichtete "Kongress für die Republik" über sechs Prozent verloren und teilt sich nun mit der ebenfalls stark dezimierten sozialliberalen "Republikanischen Partei" den Status politischer Bedeutungslosigkeit. Gewinnen konnte damals lediglich, wenn auch mit 3,6 Prozent nur bescheiden, die sehr heterogene "Volksfront", ein Bündnis aus Stalinisten, Nasseristen, Baathisten und Grünen.

Am Sonntag wurde der siebte Jahrestag der Arabischen Revolution gefeiert.
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Auch wenn linke und nationalistische Gruppierungen Teil der aktuellen Protestbewegung sind, so scheinen diese bestehenden Parteien nicht der zentrale Antrieb der Proteste zu sein. Vielmehr findet sich auf den tunesischen Straßen eine sehr heterogene Basisbewegung der Unzufriedenen unterschiedlichen Coleurs zusammen. Während die Regierung mittlerweile versucht mit Versprechungen nach einer Aufstockung von Sozialprogrammen die Unzufriedenen ruhig zu stellen, so zeigt diese Strategie bislang wenig Wirkung. Am vergangenen Wochenende nutzten zehntausende die Feiern zum siebten Jahrestag der Revolution, um gegen die aktuelle Regierung zu protestieren. Mit weiteren Protesten und Zusammenstößen in den nächsten Tagen ist zu rechnen. (Thomas Schmidinger, 15.1.2018)