Ein Bild aus den Anfangszeiten: der Naked Bike Ride 2008 im Rahmen der Critical Mass Wien.

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Alec Hager ist einer von vielen Protagonisten, die Wien im vergangenen Jahrzehnt zu einer fahrradfreundlicheren Stadt gemacht haben.

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Innsbruck/Wien – Diesem Ende wohnt ein Zauber inne. Nach fast zwölf Jahren ziehen die Protagonisten der Wiener Fahrradszene – eigentlich sind es längst Szenen – Bilanz. "Die Gründungsphase geht zu Ende. Daraus kann nun Neues entstehen", erklärt Alec Hager die Zäsur. Was mit der ersten Critical Mass im Frühjahr 2006 gewachsen ist, sei mittlerweile so weit gediehen, dass man einen ersten Rückblick wagen dürfe, sagt Hager. Auch wenn dieser nur Momentaufnahmen liefern könne, weil zu viel passiert und zu viele Personen involviert waren, um Vollständigkeit zu gewährleisten.

Hager und andere Szenevertreter haben das vergangene Jahrzehnt Wiener Fahrradgeschichte in einer Kurzdoku aufgearbeitet. Wobei er anmerkt, dass man aus produktionstechnischen Gründen nur fünf Personen zu Wort kommen lassen konnte: "Dabei gäbe es so viel mehr Menschen, die so viel mehr Geschichten zu erzählen hätten." Im Rahmen von Österreichs erster und einziger Fahrrad-Radiosendung "Rad Rad Radiooo", die jeden zweiten Freitag auf Radio Orange zu hören ist, gibt es ein Special zu dem Thema zum Nachhören. Dort kommen die Interviewten etwas ausführlicher zu Wort als in der Filmdokumentation.

Die kurze Filmdoku zur Entstehung der Wiener Radlszene von Florian Hofer und Alec Hager.
Florian Hofer

Anstoß für die Entwicklung einer wirklich aktiven Fahrradszene in Wien war demnach die Critical Mass. Monatlich treffen sich seit 2006 an jedem dritten Freitag im Monat Radfahrer in Wien, um gemeinsam eine Ausfahrt zu unternehmen. Am 19. Jänner ist es wieder so weit, Treffpunkt ist der Schwarzenbergplatz. Die Idee hinter dieser Art des Empowerments stammt aus San Francisco, wo 1992 die erste Critical Mass stattfand. Nach dem Motto "We are traffic", also wir sind der Verkehr, nehmen sich die Radler dabei die Straße zurück, auf der sie sonst meist gegenüber den Motorisierten das Nachsehen haben.

Die Critical Mass ist jedoch keine Demonstration. "Die Veranstaltung wird nicht angemeldet, die Route wird spontan von den Teilnehmern gewählt", erklärt Hager. Als nun 2006 die erste Wiener Critical Mass (es gab bereits Ende der 1990er einen Versuch, sie zu etablieren, der fehlschlug) im Dunstkreis des EKH entstand, sei in der Stadt bereits ein gewisser Geist pro Fahrrad spürbar gewesen, erinnert sich Hager. Doch erst durch die regelmäßigen Treffen Gleichgesinnter wurde eine Bewegung daraus.

Vom Filmfestival zur Bikekitchen

So entstanden in den folgenden Jahren in Wien immer mehr radspezifische Initiativen und Angebote. Hager selbst initiierte 2007, beflügelt vom Geist der Critical Mass, das erste Bicycle Film Festival Vienna, das mittlerweile unter dem Namen Radkult Wien Festival firmiert. Nach einem Jahrzehnt hat der umtriebige Radaktivist, der im Dezember auch seine Funktion als Geschäftsführer und Sprecher der Radlobby abgegeben hat, das Festival 2017 zum vorerst letzten Mal organisiert. Wobei Hager betont, dass das nicht das Ende von Bikefilm-Festivals in Wien und Österreich bedeute. Im Gegenteil: Er hat dafür Sorge getragen, dass ab März zahlreiche Radfilme über eine Plattform frei verfügbar sein werden: "So kann künftig jeder ohne großen Aufwand ein Filmfestival organisieren."

Als weiteren Meilenstein in der Entwicklung der Wiener Radlszene bezeichnet Hager die Gründung der Bikekitchen im Jahr 2008. Die Fahrradselbsthilfewerkstatt im 15. Bezirk ist Treffpunkt und Anlaufstelle für Radfahrer, die über rein technische Fragen weit hinausgeht. Neben dem Schrauben wird hier auch der inhaltliche Austausch gepflegt.

Die Gründung des Lastenbike-Botendiensts Heavy Pedals im Jahr 2009 und die erste Piratislava – eine aus der Szene entstandene Radtour von Wien nach Bratislava – im Jahr 2010 markieren weitere Eckdaten in Wiens junger Bikehistorie.

Die Lehrjahre sind vorbei

Die Auflistung erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit und soll lediglich einen Eindruck vermitteln, was in Wien im vergangenen Jahrzehnt gewachsen ist. Hager weiß, dass es noch viel zu tun gibt, was Verkehrspolitik angeht. Auch die Szene entwickelt sich weiter, wie die Abhaltung Fahrradboten-EM 2017 in Wien gezeigt hat. Auf der sportlichen Seite nimmt die Disziplin Cyclocross einen immer größeren Stellenwert ein.

Die Aufbauphase ist erledigt, denkt Hager: "Die Radszene in Wien ist nun alt genug, um zurückblicken zu können." Die Frage wird sein, was weiter daraus entsteht. Längst ist aus der Szene eine Vielfalt von Szenen geworden, die sich mit den diversen Spielarten des Radelns befassen. Herausfordernd wird auf jeden Fall, diese wachsende Vielfalt weiter unter einem gemeinsamen Nenner zu vereinen. (Steffen Arora, 15.1.2018)