Er sei, sagte Günther Weidlinger kurz nach der Halbzeit, einigermaßen beeindruckt. Denn eigentlich, erklärte der Oberösterreicher, sei er alles andere als Stadtläufer: Die Vorstellung, einen zweistündigen (für ihn) gemütlichen Longjog durch eine Millionenstadt zu machen, sei für ihn mehr Pflicht als sexy. So sagte das der Mann, der 2009 mit 2:10:47 den bis dahin 23 Jahre gültigen österreichischen Rekord über die Marathonstrecke von Gerhard Hartmann einstellte, natürlich nicht. Nicht wörtlich. Aber dass man in Wien im Stadtzentrum losrennen kann und in einer Sub-5'30"er-Pace über zwei Stunden mit einer 13-köpfigen Hobbyläuferinnen- und -läufergruppe unterwegs ist und nur vier oder fünf Kreuzungen mit dem Straßenverkehr hat, überrascht Nichtwiener dann doch. So wie diesen Sonntag den bald 40-jährigen Braunauer.

Foto: Thomas Rottenberg

Doch der Reihe nach: Günther Weidlinger ist als Botschafter nach Wien gekommen. Österreichs erfolgreichster und stärkster Läufer über Distanzen ab 1.500 Meter ist heute kein aktiver Wettkampfathlet mehr, sondern – unter anderem – Renndirektor des Linz-Marathons. Der findet am 15. April statt. Weidlinger begleitet bei den wöchentlichen Trainings-Longjogs, die heutzutage zum Rundumprogramm der meisten Marathonevents einfach dazugehören, Läuferinnen und Läufer auf ihren Vorbereitungsdauerläufen. Meist in Linz – aber nicht nur dort: Diesen Sonntag war der Rekordläufer bei dem von meinem Coach Harald Fritz mit Michael Wernbachers Wemove-Laufshop in Wien-Landstraße organisierten Gratislauftreff mit dabei.

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Diesen Weekly Longjog habe ich an dieser Stelle schon beschrieben – und ein kleines Detail ausgelassen: Da der Linz-Marathon immer mehr Nichtoberösterreicher anzieht und Harald Fritz mit Günther Weidlinger befreundet ist, versteht sich dieser Wiener Lauftreff auch als Vorbereitungslauf für Linz.

Das ist beim Laufen selbst in der Theorie egal. Wenn man aber in der Praxis die Chance hat, mit einer Lauflegende eine Sonntagsrunde zu drehen und zu plaudern, ist das etwas Besonderes. Und für die Linzer ist es – no na – eine willkommene Möglichkeit, in Wien Flagge zu zeigen.

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Sommer- oder Strandfiguren, heißt es, werden im Winter gemacht. Das ist zwar eine Plattitüde, aber trotzdem wahr. Und: Sie gilt auch fürs Laufen. Denn wer im Frühjahr bei einem der Volks- und Frühlingsläufe – egal über welche Distanz – gute Figur machen will, tut gut daran, nicht erst im März die Laufschuhe anzuziehen: Das Fundament für erfolgreiche Läufe bei milden Temperaturen wird im Winter gelegt. Das Wetter? Nun ja: Es herrscht. Man nimmt es an – oder bleibt daheim. Jammern ändert nix – und schafft nur schlechte Stimmung. Dass am Wochenende in Wien erstmals so etwas wie "Winter" sicht- und spürbar war? Jo eh: Im Winter ist mit Winter zu rechnen – und nur Wiens Autofahrer überrascht, wenn es da nach tagelangen Vorankündigungen nass, kalt und glatt ist.

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Natürlich gibt es lustigeres Laufwetter als auffrischenden, kalten und böigen Wind, der aus dem Südosten die Donau entlangpfeift und Schneeflocken und Regentropfen vor sich hertreibt und einem, eh klar, immer, immer, immer frontal entgegenbläst. Natürlich gibt es angenehmere Bodenverhältnisse als Nassschnee, der vom noch warmen Boden in der Sekunde zu nassem Matsch aufgetaut wird. Natürlich ist "suboptimal" ein Euphemismus, wenn parkplatzgroße Lacken den Begriff "trockenen Fußes" binnen Sekunden zu einer Erinnerung an den Sommer machen. Aber: "You want – you can – you will" – oder lass es.

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Das Faszinierende am Laufen bei so einem Wetter ist, dass es in Wirklichkeit nicht schlimm ist. Im Gegenteil. Der Haken daran ist, dass das nur die verstehen, die es bereits tun. Alle, die warm, trocken und gemütlich daheim sofieren oder im Fitnesscenter auf dem Laufband in Fernseher glotzen, tippen sich an die Stirn, reden vom "Fremdfrieren" und rufen nach dem Sachwalter. Dass Laufen nicht nur leistungs-, sondern auch wettertechnisch richtig Spaß macht, wenn man sich jenseits der Komfortzone bewegt, ist eben schwer vermittelbar. "Wenn die Schuhe einmal nass sind und man sich bewegt, ist das kein Problem", lacht Weidlinger. Also sorgten wir dafür, diesen Limes rasch zu überschreiten: Nein, schwer war das nicht.

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Dass da mehr als 30 Leute in vier unterschiedlich schnellen Gruppen unterwegs sein würden, war aber doch überraschend. Große Worte hin oder her: No na schreckt dieses Wetter ab. Die Option, sich am Sonntag eben nicht vor sieben in der Früh aus dem Bett zu quälen, um sich "longjogfit" zu machen, ist natürlich attraktiv. Erst recht, wenn man weiß, dass man die ersten zehn Minuten frieren muss, damit der Rest des Laufes kein Dampfbad wird. Bei starkem Südostwind und Schneeregen? Danke, ganz lieb …

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Doch diesen Sonntag war auch andernorts der offizielle Marathon-Vorbereitungslauf-Start. Denn selbstverständlich hat auch der VCM, der Vienna City Marathon, seine Vorbereitungsläufe. In Wien sind das keine Gruppen-Longjogs. Das wäre angesichts der fünfstelligen Teilnehmerzahlen an den Nebenbewerben des Wien-Marathons mit seinen rund 6.500 Volldistanz-Finishern weder praktikabel noch sinnvoll. Deshalb lädt VCM-Chef Wolfgang Konrad zur "VCM-Winterlaufserie". Die findet ab Jänner alternierend zu den LCC-Eisbärläufen im Prater auf einer sieben Kilometer langen Runde statt. Es ist jedem und jeder freigestellt, wie viele Runden gedreht werden. Ein schlaues, gut funktionierendes und sehr sinnvolles Konzept.

Start der Winterläufe ist traditionell um zehn. Wir begannen um neun: Da waren Startbogen und Banden des VCM-Events gerade erst aufgestellt. Wir "crashten" kein Rennen, störten niemanden und fielen trotzdem auf: Günther Weidlinger ist in dieser Welt kein Unbekannter. Wolfgang Konrad (im Bild rechts außen mit der dunklen Winterjacke) dürfte uns aber nicht gesehen haben. "Ich krieg sicher trotzdem eine Mail von ihm …" feixte Weidlinger.

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Wir ließen die Hauptallee rasch hinter uns. Der Weg führte uns an den Stallungen der Freudenau vorbei, den Donaukanal flussabwärts zur Brücke, die Simmering mit dem Kraftwerk Freudenau verbindet. Eine meiner längeren Standardrunden in und durch Wien.

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Dort war dann Halbzeit – und vor allem Schluss mit dem elenden Gegenwind: Die Routenwahl- und -richtung hatten wir ausschließlich wegen des Windes so getroffen. Denn Günther Weidlinger gehört (so wie die meisten Läuferinnen und Läufer) zu jener Fraktion, die lieber zuerst gegen und dann mit dem Wind läuft.

Denn wer je – sei es am Rad oder laufend – am Donauufer oder auf der Insel zehn oder mehr Kilometer voll im Wind gestanden ist, wählt, wenn er oder sie die Wahl hat, praktisch immer die "Take me home"-Option.

Foto: Thomas Rottenberg

Waren wir beim Weg durch den Prater noch froh über jedes Fuzzi Windstopper an Oberkörper und Armen gewesen, wurde uns allen jetzt warm. Richtig warm. Die Pace knapp unter 5'30" aber doch konstant zu halten, war auf einmal ein echtes Thema: Ein bisserl schneller geht immer – aber wer den Wind so nutzt, deutlich schneller zu sein, als er oder sie es in Wirklichkeit kann, muss dann irgendwann doch dafür zahlen. Auch diese Lektion sollte man tunlichst bei einem Trainingslauf und nicht im Wettkampf lernen.

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Auf dem Rückweg kamen wir noch einmal auf die VCM-Laufstrecke. Das Rennen war in vollem Gange – und selbstverständlich wichen wir dem Start-Ziel-Bereich jetzt aus: Auch wenn die Hauptallee während der meisten Laufveranstaltungen nicht für andere Läufer, Spaziergänger, Radfahrer und Hundespazierer gesperrt ist, ist es ein absolutes No-Go, in den sensiblen Zonen zu stören. Und Ziel- und Versorgungsbereich sind für die, die auf Anschlag unterwegs sind, absolut sensibel.

Unterwegs, wenn man wirklich niemanden stört, ist das eine Frage des Fingerspitzengefühls: Wir erwischten einen Slot, in dem die Dichte der Wettkämpferinnen und Wettkämpfer schütter war. Unser Tempo passte nahtlos. Also liefen wir – brav am Rand – etwa eineinhalb Kilometer mit: Da uns da – mitten auf der Wettkampfstrecke – sogar ein Auto entgegenkam, dürften wir nicht wirklich gestört haben.

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Zurück ging es dann über Donaukanal, Urania und Wienfluss zum Start der Runde. Laut meiner Garmin – ich hatte weder bei Pinkelpausen noch an Kreuzungen die Pausetaste gedrückt – waren wir exakt zwei Stunden und ein paar Sekunden unterwegs gewesen. Die Nettolaufzeiten errechnete Strava dann mit 1-56-irgendwas. Die Strecke? Ziemlich punktgenau 22 Kilometer – also ein Schnitt von 5'17" pro Kilometer. Aber: Das sind nur Zahlen.

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Neben trockenem Zeug, Riegeln und Getränken begrüßte uns im "Ziel" dann noch einer, der eventuell das Zeug hat, in Günther Weidlingers Fußstapfen zu treten: Lemawork Ketema.

Dass das, was unsereiner auf die Straße bringt, für ihn und Weidlinger gerade Aufwärmtempo ist? Ich habe noch keinen Spitzenathleten getroffen, der die Leistungen von uns "Hobetten" geringschätzig abtut. Weil gerade Spitzenleute wissen, dass es für Nichtprofis nur eine Benchmark gibt: die Freude an dem, was man tut. Nicht nur beim Laufen. Das ist, wieder einmal, nur eine Metapher. Und alleine um das zu lernen, kann ich das Laufen mit Spitzenläufern nur allerwärmstens empfehlen – erst recht, wenn es draußen nass und kalt ist. (Thomas Rottenberg, 17.1.2018)


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